Das übersehene Dunkelfeld

Richard Petersen • 21. November 2025

Warum Pädophilie bei Frauen ein blinder Fleck der Gesellschaft bleibt

Die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder fast ausschließlich von Männern ausgeht, hat sich über Jahrzehnte tief in unser kollektives Bewusstsein eingeprägt. Sie ist verständlich, denn statistisch betrachtet werden Täterinnen seltener erfasst.

Doch diese scheinbare Klarheit erzeugt gleichzeitig einen gefährlichen blinden Fleck. Das Thema Pädophilie bei Frauen wird häufig übersehen, falsch eingeordnet oder gar verharmlost. Und genau diese Mischung aus Tabu und Unwissen verhindert, dass man das Phänomen wirklich versteht oder präventiv handeln kann.

Wer sich der wissenschaftlichen Literatur nähert, spürt schnell eine Irritation. Frauen können pädophile Neigungen entwickeln, genauso wie Männer auch. Die Störung ist nicht an ein Geschlecht gebunden und wird nicht bewusst gewählt. Sie entsteht, wie moderne Sexualwissenschaftler erklären, sehr wahrscheinlich aus einer Kombination aus neurologischer Entwicklung, genetischen Faktoren, frühen Beziehungserfahrungen und möglichen Traumafolgen.

Dass Frauen seltener als Täterinnen auftreten, bedeutet nicht, dass die Neigung bei ihnen nicht existiert. Vielmehr nimmt sie bei ihnen oft andere Formen an, die gesellschaftlich weniger auffallen oder leichter fehlinterpretiert werden.

Viele Fachleute berichten, dass übergriffige Frauen häufig aus emotionaler Bedürftigkeit handeln. Nicht im Sinne einer entschuldigenden Erklärung, sondern als Hinweis darauf, dass sich ihre Dynamik anders darstellt als die vieler männlicher Täter. Manche von ihnen suchen Nähe, Bestätigung oder Macht, und finden sie aus einer verzerrten psychologischen Logik heraus in Beziehungen zu Kindern. Das vergrößert nicht nur das Leid der Opfer. Es macht die Aufdeckung auch schwieriger, weil das Umfeld Frauen stärker mit Fürsorge, Wärme und Unschuld verbindet.

Der weltweit bekannt gewordene Fall von Mary Kay Letourneau zeigt, wie schnell diese gesellschaftlichen Projektionen den Blick vernebeln. Die Lehrerin aus den Vereinigten Staaten begann eine sexuelle Beziehung zu einem zwölfjährigen Schüler. Die Öffentlichkeit reagierte mit einer merkwürdigen Mischung aus Empörung, Sensationslust und einer gewissen Nachsicht, die man in vergleichbaren Fällen männlicher Täter kaum erlebt. Einige Medien beschrieben die Beziehung sogar als Liebesaffäre, obwohl sie nach jeder juristischen und psychologischen Definition ein schwerer sexueller Missbrauch war. Genau dieses verzerrte Bild erklärt, warum pädophile Frauen oft unterschätzt werden. Es erklärt auch, warum viele Opfer lange schweigen oder erst spät verstanden wird, was ihnen angetan wurde.

Die moderne Wissenschaft versucht inzwischen zu verstehen, warum Täterinnen häufig erst spät sichtbar werden. Viele Studien weisen darauf hin, dass traumatische Kindheitserfahrungen, Bindungsstörungen oder eigene Missbrauchserlebnisse eine Rolle spielen können.

Das schafft keine Entschuldigung, legt aber offen, dass Prävention viel früher beginnen müsste. Wer Traumafolgen ignoriert, schafft ungewollt einen Nährboden für spätere Grenzüberschreitungen. Je früher man psychische Verletzungen ernst nimmt und therapeutisch begleitet, desto weniger riskant entwickeln sich spätere Beziehungsmuster.

Auch die therapeutische Arbeit hat sich in den letzten Jahren stark verändert.

Lange Zeit ging es fast ausschließlich um Bestrafung und Kontrollmechanismen. Heute richtet sich der Blick stärker darauf, wie man Menschen mit pädophilen Neigungen dabei unterstützen kann, ein verantwortungsbewusstes Leben zu führen, ohne jemandem zu schaden. Programme, die ansetzen, bevor eine Straftat entsteht, gelten als entscheidend. Sie ermutigen Menschen dazu, sich Hilfe zu suchen, ohne sofort stigmatisiert oder kriminalisiert zu werden. Gerade Frauen nutzen solche Angebote jedoch seltener, weil sie befürchten, dass ihre abweichenden Gefühle nicht ernst genommen oder fehlinterpretiert werden könnten.

Wer über Pädophilie bei Frauen spricht, betritt ein Feld voller Emotionen, Unsicherheiten und moralischer Spannung. Doch genau hier liegt die Aufgabe moderner Psychologie. Kinder brauchen Schutz, und Schutz entsteht nur durch Wissen, Transparenz und den Mut, auch das Unangenehme offen zu benennen.

Das Tabu zu brechen bedeutet nicht, Verständnis für Täterinnen zu erzeugen. Es bedeutet vielmehr, die Realität zu akzeptieren, um wirkungsvoll handeln zu können.

Je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse gesammelt werden, desto deutlicher wird, dass Pädophilie bei Frauen kein Randthema ist, das man übergehen kann. Es ist ein stiller Teil unserer gesellschaftlichen Realität, der lange übersehen wurde und gerade deshalb Aufmerksamkeit verdient.

Denn die Verantwortung endet nicht mit der Frage, warum etwas passiert. Sie beginnt an dem Punkt, an dem wir bereit sind, hinzusehen und zu verstehen, damit Kinder sicherer aufwachsen können.


Wo Opfer in Deutschland jetzt Hilfe finden können

Wenn du oder jemand, den du kennst, von sexueller Gewalt betroffen bist – unabhängig vom Geschlecht des Täters – ist es sehr wichtig zu wissen, dass du nicht alleine bist und professionelle Unterstützung zu bekommen ist. In Deutschland gibt es mehrere etablierte und vertrauenswürdige Beratungsstellen, die vertraulich, anonym und kostenlos helfen:

  • Das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch ist rund um das Thema sexueller Missbrauch eine zentrale Anlaufstelle. Unter der kostenlosen Nummer 0800 22 55 530 erreichst du Berater:innen, die speziell zu Missbrauch in der Kindheit beraten. hilfe-portal-missbrauch.de+2hilfe-portal-missbrauch.de+2
  • Die Berater:innen sind Mo, Mi und Fr von 9 bis 14 Uhr sowie Di und Do von 15 bis 20 Uhr erreichbar. hilfe-portal-missbrauch.de+1
  • Es besteht auch die Möglichkeit einer Online-Beratung über das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch, falls du lieber schriftlich Kontakt aufnehmen möchtest. hilfe-portal-missbrauch.de+1
  • Falls du akut in einer Krise bist, bietet das Hilfe-Portal auch Informationen zu Krisendiensten und psychiatrischen Notdiensten an. hilfe-portal-missbrauch.de
  • Wenn sexuelle Gewalt Teil eines größeren Kontextes von Gewalt gegen Frauen ist, kann das kontinuierlich besetzte Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen unter 08000 116 016 kontaktiert werden.

 

In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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