Der Mann, der vergaß zu sprechen
Der bewegende Fall des Viktor A.
Wie Hypnose einem traumatisierten Soldaten seine Stimme zurückgab
Frankreich, 1915. Die Luft bebt. Der Boden unter den Füßen der Soldaten ist ein einziger zerfetzter Schlammteppich. Granaten zerreißen die Erde, Maschinengewehrsalven pfeifen durch die Luft, Schreie vermischen sich mit dem Dröhnen der Explosionen. Es ist die Hölle des Ersten Weltkriegs, eine Welt aus Lärm, Dreck und Tod.
Mitten in diesem Chaos ein junger Soldat, kaum zwanzig Jahre alt. Sein Name ist Victor A. Er duckt sich, läuft, kämpft ums Überleben – Seite an Seite mit seinem engsten Freund. Sie kennen sich seit der Kindheit.
Dann, im Bruchteil einer Sekunde, zerreißt eine Granate alles, was war: die Erde, die Stille, die Freundschaft, den Freund.
Der Körper des Freundes wird in Stücke gerissen. Victor überlebt. Äußerlich unversehrt.
Doch als sich der Rauch lichtet, ist da etwas Unheimliches. Victor A. spricht kein Wort mehr. Nicht aus Schock. Nicht aus Schmerz. Sondern, als hätte seine Stimme selbst das Schlachtfeld nicht überlebt.
Die Sanitäter bringen ihn vom Frontabschnitt weg, hinein in ein Lazarett fernab der Kämpfe. Dort beginnt das Rätseln. Kein Blut, keine äußere Wunde. Kein Trauma am Kehlkopf, keine Kopfverletzung, keine organische Ursache.
Und doch ist da dieser Ausdruck in seinem Gesicht, wie eingefroren. Er vermeidet jeden Blickkontakt. Er wirkt abwesend, wie entrückt – als sei ein Teil seiner selbst zurück im Krater geblieben.
Was Victor erlebte, wurde damals als „Shell Shock“ bezeichnet – man glaubte, der Luftdruck der Explosionen habe das Nervensystem beschädigt. Doch es war nicht der Knall, sondern das psychische Grauen, das seine Stimme verstummen ließ. Das Miterleben des Todes, das Entsetzen, die Ohnmacht.
Die Medizin brauchte Jahrzehnte, um das zu verstehen. Heute nennt man diese Reaktion eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), – eine seelische Verletzung, die entstehen kann, wenn Menschen extremer Bedrohung, Gewalt oder Hilflosigkeit ausgesetzt sind. Die Symptome reichen von Albträumen, Flashbacks und Übererregung bis hin zu emotionaler Taubheit, Erinnerungsverlust oder – wie bei Victor – zum vollständigen Verstummen.
Der französische Psychiater Pierre Janet, ein Pionier der modernen Psychotraumatologie, nimmt sich Victors Fall an.
Im Gegensatz zu Freud, der vor allem auf unbewusste Triebe fokussiert war, glaubte Janet, dass sich ein Teil der Seele vom Rest abspalten kann, wenn das Erlebte zu schmerzhaft ist, um integriert zu werden. Diese innere Abspaltung – die sogenannte Dissoziation – ist für Janet ein Schutzmechanismus.
Victor war also nicht nur verstummt. Ein Teil seines Bewusstseins war buchstäblich nicht mehr zugänglich, weil er den Horror nicht ertragen konnte.
Heute würde man sagen, Victor A. litt unter einer
PTBS
mit
dissoziativen Symptomen, also einer Störung, bei der das Bewusstsein in Momenten extremer Überforderung
„wegschaltet“, um das seelische Überleben zu sichern. Sprache, Bewegung, Gefühle – all das kann in solchen Momenten wie abgespalten wirken. Die Dissoziation schützt vor dem Erleben des Schmerzes, doch sie blockiert auch den Zugang zum Selbst.
Dissoziation tritt häufig auf, wenn ein Erlebnis zu überwältigend ist, um es bewusst zu verarbeiten. Der Geist trennt es ab, um zu schützen, vor allem bei Trauma, Schock oder anhaltender Überforderung. Doch was abgespalten ist, bleibt im Innern weiter wirksam.
Janet führt Victor sanft in eine
Hypnose. Und dort passiert Erstaunliches.
In Trance beginnt Victor leise zu sprechen. Bruchstückhaft tauchen Erinnerungen auf. Der Kamerad. Das gemeinsame Lachen. Der letzte Blick. Dann der Knall. Die Angst. Der Schock. Das Schweigen.
Janet bleibt ruhig. Er lässt Victor durch das Erlebte gehen – aber nicht allein. In Hypnose ist das Gehirn nicht ausgeliefert, sondern geschützt, begleitet, distanziert.
Und dann passiert es. Victor schreit. Er durchlebt das Trauma ein letztes Mal. Und danach spricht er wieder. Zuerst stockend, dann klarer. Als würde seine Seele langsam zurückkehren.
Aus heutiger Sicht litt Victor A. an einer
dissoziativen Amnesie, also einem zeitweiligen Gedächtnisverlust, verbunden mit
psychogenem Mutismus, einer seelisch bedingten Sprechblockade, bei der die Stimme versagt, obwohl körperlich alles intakt ist. Sein Gehirn trennte das belastende Erlebnis von seinem Bewusstsein ab, um ihn zu schützen. Doch der Preis war hoch – er verlor einen Teil seiner Identität und seine Stimme. Hypnose half, diese abgespaltenen Erinnerungen sicher wieder zu integrieren, ohne Überflutung, ohne Retraumatisierung.
Der Fall von Victor A. ist bis heute ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Hypnose genutzt werden kann, um seelisch abgespaltene Erlebnisse sanft wieder zugänglich zu machen, den emotionalen Schock zu verarbeiten und den Zugang zu verborgenen Ressourcen wiederherzustellen.
In einem Zustand fokussierter Trance können Bilder, Geräusche und Gefühle auftauchen, die dem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich sind – oft aus gutem Grund. Doch in Hypnose entsteht ein innerer Schutzraum, in dem das Unsagbare doch gesagt, das Unerträgliche doch gefühlt und das Verlorene wiedergefunden werden kann.
Mehr als ein Jahrhundert liegt zwischen Victor A. und uns, und doch sind seine Symptome alles andere als Vergangenheit. Auch heute noch erleben Menschen Situationen, die sie innerlich zerreißen – Unfälle, Krieg, Missbrauch, Verlust, emotionale Vernachlässigung oder Gewalt. Und noch immer schützt sich der menschliche Geist in Momenten extremer Bedrohung mit denselben Mechanismen wie damals – etwa mit Dissoziation, Erstarrung oder dem vollständigen inneren Rückzug.
Die gute Nachricht ist, dass die heutige Psychotraumatologie weit fortgeschritten ist. Hypnotherapeutische Ansätze gehören inzwischen zu den anerkannten Verfahren in der Trauma- und Dissoziationsbehandlung – häufig kombiniert mit EMDR, körperorientierter Psychotherapie, innerer-Kind-Arbeit oder sicherheitsfokussierter Stabilisierung.
Moderne Hypnose nutzt keine autoritäre Suggestion mehr, sondern schafft einen sicheren Raum, in dem das Unaussprechliche langsam auftauchen darf – behutsam, ressourcenorientiert, achtsam. Es geht nicht darum, das Trauma wiederzuerleben, sondern darum, wieder über sich selbst verfügen zu können.
Für Betroffene oder Angehörige – was du wissen solltest!
Wenn du selbst unter Symptomen leidest, die du dir nicht erklären kannst – wie emotionale Taubheit, Erinnerungsprobleme, plötzliche Panikattacken oder körperliche Beschwerden ohne medizinischen Befund – dann kann es sein, dass deine Psyche dich auf ein altes seelisches Erlebnis aufmerksam machen will. Nicht weil du
„verrückt“ bist, sondern weil dein Innerstes noch Schutz braucht.
Du bist nicht allein. Und du bist nicht schwach. Trauma ist keine Charakterschwäche, sondern eine Verletzung, die behandelt werden kann.
Ein erfahrener Hypnosetherapeut oder Traumatherapeut kann dir helfen, deinen Weg zurück zu innerer Sicherheit, Lebendigkeit und Selbstwirksamkeit zu finden – so wie einst bei Victor A., nur mit modernen, sanften Mitteln.
Historische Notiz zur Identität von Victor A.
Der Name „Victor A.“ stammt aus frühen Fallberichten des französischen Psychiaters Pierre Janet. Bis heute weiß man nicht, welche reale Person sich hinter diesem Namen verbirgt. Wahrscheinlich handelte es sich um ein bewusst gewähltes Pseudonym – ein Mittel, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufig verwendet wurde, um Patienten zu anonymisieren und gleichzeitig medizinisch-psychologische Phänomene dokumentieren zu können.
Pierre Janet war einer der ersten, der sich systematisch mit psychischer Traumatisierung, Dissoziation und der therapeutischen Kraft der Hypnose befasste. Seine Beschreibungen waren oft klinisch präzise, aber zugleich geprägt von großem Respekt gegenüber dem seelischen Leid der Betroffenen. Namen wie „Victor A.“ stehen daher nicht nur für Einzelfälle, sondern auch für ganze Generationen traumatisierter Menschen, deren Schicksale vielfach ungehört blieben.
Ob Victor A. wirklich so hieß, woher er kam, oder was aus ihm wurde – all das bleibt im Dunkeln. Doch sein Fall hat überlebt. Und mit ihm ein tieferes Verständnis für die Verletzlichkeit und zugleich die Widerstandskraft des menschlichen Geistes.
In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,
Richard
P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.