Wenn das Gehirn anders denkt -

Richard Petersen • 20. Juni 2025

und manchmal Wunderbares hervorbringt

In unserer zunehmend diversitätsbewussten Gesellschaft rückt ein Thema immer mehr in den Mittelpunkt: "neurodivergentes Denken" – also Gehirne, die anders funktionieren als die der Mehrheit. Eine besonders faszinierende Form davon zeigt sich beim "Asperger-Syndrom", einer Variante des Autismus-Spektrums.

Wer davon betroffen ist, denkt oft detailgenau, strukturiert und leidenschaftlich – hat aber gleichzeitig Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt.

Manchmal jedoch geht diese andere Art des Denkens zusätzlich mit außergewöhnlichen Fähigkeiten einher. Dann spricht man vom sogenannten "Savant-Syndrom". Es sind diese seltenen Fälle, in denen Menschen mit Autismus scheinbar übermenschliche Leistungen in Mathematik, Kunst oder Sprachen vollbringen.


Das "Asperger-Syndrom" ist eine Form des Autismus, die lange Zeit als eigenständige Diagnose galt. Menschen mit Asperger sind in der Regel sprachlich und intellektuell unauffällig oder sogar hochbegabt. Und dennoch fällt es ihnen oft schwer, nonverbale Signale wie Mimik, Gestik oder Ironie zu deuten. Sie nehmen die Welt anders wahr – analytischer, wörtlicher, reizempfindlicher.


Typische Merkmale:

  • Schwierigkeiten mit sozialer Intuition und spontaner Kommunikation
  • Fixe Spezialinteressen, die mit erstaunlicher Tiefe verfolgt werden
  • Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen, Licht oder Berührungen
  • Starker Wunsch nach Struktur, Vorhersehbarkeit und Routinen


Die Diagnose wurde nach dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger benannt, der in den 1940er-Jahren Kinder beschrieb, die zwar kognitiv sehr leistungsfähig waren, aber große Schwierigkeiten in der sozialen Anpassung zeigten.

Seine Forschung geriet zunächst in Vergessenheit, bis sie in den 1980er-Jahren wiederentdeckt wurde. Erst seitdem spricht man international vom Asperger-Syndrom – wenn auch heute unter einem neuen Dachbegriff.


Seit 2013 ist das Asperger-Syndrom offiziell Teil der "Autismus-Spektrum-Störung" (ASS). Der Begriff „Spektrum“ betont, dass Autismus in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auftritt. Von schwerster Entwicklungsverzögerung bis zu hochfunktionalen Erscheinungsformen wie Asperger.


Was alle Autismusformen gemeinsam haben:

  • Veränderungen in der sozialen Kommunikation
  • Eingeschränkte oder sich wiederholende Verhaltensmuster
  • Eine andere Art, die Welt zu strukturieren und wahrzunehmen


ASS ist keine Krankheit im klassischen Sinne, sondern eine neurobiologische Variante des Menschseins. Viele Betroffene beschreiben sich nicht als „krank“, sondern einfach als „anders verdrahtet“. Sie denken logisch, lieben Details und erkennen Muster, wo andere nur Chaos sehen – stoßen dabei aber oft an soziale Grenzen.


In etwa einem von zehn Fällen von Asperger tritt eine sogenannte Inselbegabung  auf.

Eine extreme Fähigkeit in einem sehr spezifischen Bereich – oft begleitet von Schwächen in anderen Lebensbereichen. Diese Kombination nennt man "Savant-Syndrom".

Savants sehen Muster, wo wir nur Chaos sehen. Savants sind keine Genies im klassischen Sinn. Ihre Fähigkeiten sind meist nicht breit gefächert, sondern hyperfokussiert – oft in Bereichen wie:


  • Mathematik (z. B. Berechnung von Primzahlen oder Kalenderdaten)
  • Kunst (realistische Zeichnungen aus dem Gedächtnis)
  • Musik (komplexe Stücke nach einmaligem Hören wiedergeben)
  • Sprachen (schnelles Erlernen vieler Fremdsprachen)


Wissenschaftlich vermutet man, dass bestimmte Hirnareale besonders stark arbeiten, während andere – etwa jene für soziale Interaktion – unterentwickelt sind. Das Gehirn kompensiert Schwächen durch überaktive Nischenfähigkeiten.

Was passiert im Kopf eines „Genies“? Ein Streifzug durch Synästhesie, Supergedächtnis und sprachliche Wunderwelten.

Zwei beeindruckende Beispiele zeigen, was das bedeuten kann.


1. Daniel Tammet – Das mathematische Wunderkind

Daniel Tammet, geboren 1979 in England, ist einer der bekanntesten Savants unserer Zeit. Er spricht über zehn Sprachen, darunter Isländisch, das er innerhalb weniger Tage erlernte, und hat ein ausgeprägtes Zahlengedächtnis. Die Zahl Pi kann er aus dem Kopf auf über 22.000 Dezimalstellen aufsagen. Schon als Kind fiel er durch sein außergewöhnliches Zahlengedächtnis auf. Nach einem epileptischen Anfall im Alter von vier Jahren begann er, Zahlen nicht nur zu verstehen, sondern zu sehen und zu fühlen,  als Farben, Formen und Bewegungen Diese Form der Wahrnehmung nennt man Synästhesie.*


Seine Fähigkeiten im Überblick:

  • Er rezitierte Pi aus dem Kopf – auf 22.514 Stellen in mehr als fünf Stunden.
  • Er lernte Isländisch in einer Woche, um es in einer Live-TV-Sendung zu sprechen.
  • Er spricht über ein Dutzend Sprachen, viele davon selbst erfunden oder durch reine Strukturvergleiche erlernt.
  • Eigene Kunstsprache („Mänti“)
  • Zahlengedächtnis, das visuell-emotional arbeitet: „Die Zahl 289 ist hässlich, 333 ist attraktiv und 117 ist wie ein Blitz.“


Anders als viele andere Savants kann Tammet über seine Innenwelt kommunizieren. In seinem Buch "Elf ist freundlich und Fünf ist laut" beschreibt er eindrucksvoll, wie seine Synästhesie, seine Asperger-Diagnose und seine mathematische Begabung miteinander verknüpft sind. Er plädiert dafür, Neurodivergenz nicht als Defizit zu betrachten – sondern als andere Form menschlicher Intelligenz.

Heute lebt Tammet in Paris, schreibt Essays, hält Vorträge über Wahrnehmung, Sprache und Kognition – und ist ein Beispiel dafür, wie besondere Begabung durch Verständnis und Förderung zur Blüte kommt.


2. Stephen Wiltshire – Der Mann mit der Kamera im Kopf

Ein anderes eindrucksvolles Beispiel ist Stephen Wiltshire, geboren 1974 in London. Er sprach bis zum 9. Lebensjahr kein Wort, wurde zunächst als „stumm“ diagnostiziert, war zurückgezogen und galt als „nicht bildungsfähig“.

Doch mit vier Jahren begann er zu zeichnen – und hörte nie wieder damit auf. Schon bald stellte man fest: Stephen konnte Gebäude und Stadtlandschaften detailgetreu aus dem Gedächtnis zeichnen – nach nur einem kurzen Blick.


Seine spektakulärsten Leistungen:

  • Nach einem einzigen Helikopterflug über New York zeichnete er die gesamte Skyline aus dem Kopf. Maßstabsgerecht, perspektivisch korrekt, mit tausenden Fenstern und architektonischen Details die Vermessungstechniker staunen lässt.
  • Weitere Werke gibt es von Rom, Tokio, Frankfurt, Sydney, Dubai – gezeichnet aus dem Gedächtnis
  • Seine Zeichnungen hängen heute in Museen, Galerien und Botschaften weltweit


Wiltshires Gehirn speichert visuelle Informationen offenbar wie eine Hochleistungskamera. Er selbst sagt wenig über seine Gabe – seine Kunst spricht für ihn. Heute betreibt er ein eigenes Atelier in London und gilt als einer der bekanntesten Künstler mit Autismus.


So beeindruckend die Fähigkeiten von Savants auch sind – sie sollten nicht idealisiert werden. Viele Menschen im Autismus-Spektrum, auch jene mit Inselbegabungen, kämpfen mit Herausforderungen, die in der Außenwelt oft unsichtbar bleiben. Soziale Isolation, Reizüberflutung, Missverständnisse, Angststörungen.

Einige schaffen es, ihre Talente in Beruf und Öffentlichkeit zu integrieren. Andere benötigen lebenslange Unterstützung. Entscheidend ist, dass wir als Gesellschaft lernen, neurodiverse Menschen nicht nur zu akzeptieren – sondern zu verstehen und zu fördern.


Das Asperger-Syndrom erinnert uns daran, dass Intelligenz mehr ist als Schulnoten oder Smalltalk-Fähigkeit. Sie kann sich in Zahlenkolonnen zeigen, in Gedächtniszeichnungen, in Sprachkunst oder stiller Detailverliebtheit. Savant-Fähigkeiten sind keine Magie – sie sind Ausdruck dessen, was möglich wird, wenn das Gehirn anders verknüpft.

Zwischen dem, was wir für „normal“ halten, und dem, was wir nicht verstehen, liegt oft ein Raum für Neues, für Genialität – und für Menschlichkeit.


Infobox   Synästhesie:  Es handelt in der Regel keine  „Erkrankung“ im klassischen Sinn, sondern eine neurologische Besonderheit, bei der Sinnesreize miteinander verknüpft werden – z. B. sieht jemand Farben, wenn er Töne hört (Farb-Ton-Synästhesie), oder verbindet Buchstaben mit bestimmten Farben (Graphem-Farb-Synästhesie). Viele Menschen mit Synästhesie empfinden sie als Bereicherung und nicht als Leid.

Es gibt einige bekannte Künstler und Prominente, bei denen bekannt ist oder vermutet wird, dass sie Synästheten sind:


Pharrell Williams: Hat öffentlich erklärt, dass er Farben sieht, wenn er Musik hört – eine Form der Farb-Ton-Synästhesie.

Lorde (Sängerin aus Neuseeland): Sie beschreibt, dass sie Farben in Verbindung mit Musik und Wochentagen empfindet.

Billie Eilish: Auch sie hat öffentlich erzählt, dass sie Synästhesie hat und z. B. Songs mit Farben, Formen und Texturen verbindet.

Lady Gaga (vermutlich): Hat in Interviews Hinweise gegeben, dass sie ähnliche Erfahrungen macht, auch wenn sie es nicht explizit als Synästhesie bezeichnet hat.


In kreativen Berufen scheint Synästhesie überdurchschnittlich häufig aufzutreten. Viele Künstler nutzen sie bewusst in ihrer Arbeit – nicht als Störung, sondern als kreative Ressource.


In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P.S. De maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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