Der Kobra-Effekt

Richard Petersen • 8. August 2025

Wenn gute Absichten katastrophale Folgen haben

Eine zunächst sinnvoll klingende Idee führt in ein Desaster. Kommt dir das bekannt vor?

Typisch "Verschlimmbesserung". Das Ergebnis von gut gemeint führt manchmal in eine regelrechte Katastrophe.

In der Wissenschaft ist das Phänomen auch bekannt als "Kobra-Effekt". Kurz gesagt, beschreibt dieser Effekt das Verschlimmern einer Ausgangssituation durch den Versuch, es eigentlich besser zu machen.

„Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.“

Kaum ein Phänomen zeigt diese alte Weisheit so eindrucksvoll wie der "Kobra-Effekt" – ein Begriff aus der Verhaltensökonomie, der heute mehr denn je aktuell ist. Doch was steckt dahinter? Und warum führt eine gut gemeinte Lösung manchmal direkt in die Katastrophe?


Der Begriff „Kobra-Effekt“ geht auf ein Ereignis zurück, das sich zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft in Indien zugetragen haben soll und das inzwischen fast schon legendär ist.

Im damaligen Delhi gab es damals ein ernstes Problem. Eine wachsende Population hochgiftiger Kobra-Schlangen bedrohte die Bevölkerung. Die britischen Kolonialbeamten beschlossen, das Problem mit einem cleveren Anreizsystem zu lösen. Sie boten eine Prämie für jede tote Kobra.

Was zunächst vernünftig klang, führte jedoch zu einer unvorhergesehenen Wendung. Die Bevölkerung begann, Kobras nicht nur zu jagen, sondern sie in großem Stil zu züchten, um sie später für Geld töten zu können. Als die Behörden den Betrug bemerkten und die Prämienaktion stoppten, ließen die „Züchter“ ihre nun wertlosen Schlangen frei.

Ergebnis: Es gab mehr Kobras als je zuvor.

So wurde der Begriff "Kobra-Effekt" zum Symbol für unerwünschte Nebenwirkungen von Anreizsystemen – vor allem, wenn sie menschliches Verhalten falsch einschätzen.

Ein ähnliches Ereignis wie in Indien spielte sich in den 1900er Jahren in Hanoi (Vietnam) ab (damals unter französischer Kolonialverwaltung). Um die Rattenplage zu bekämpfen, bezahlte man eine Prämie für jedes getötete Tier. Nachweisbar durch das Abgeben eines Rattenschwanzes. Doch anstatt die Ratten zu töten, begannen viele, ihnen einfach nur die Schwänze abzuschneiden und wieder freizulassen damit sie sich weiter vermehren konnten. Einige züchteten Ratten gezielt, um eine nachhaltige Einkommensquelle zu schaffen. Die Plage explodierte.

Ein klassischer Fall von: gut gemeint, schlecht gemacht.

Bekannt wurde der Begriff „Kobra-Effekt“ insbesondere durch das gleichnamige Buch von Horst Siebert. Darin nennt er unter anderem zahlreiche Beispiele aus der Wirtschaft, in denen es durch falsche Anreize zu eben solchen Verschlimmbesserungen kam.


In der Verhaltensökonomie beschreibt der "Kobra-Effekt" eine Situation, in der eine interventionistische Maßnahme, die eigentlich ein Problem lösen soll, das Problem verschlimmert, weil die Menschen auf die Anreize strategisch und unvorhergesehen reagieren. Kurz gesagt: Ein Anreiz erzeugt ein neues Problem, weil Menschen clever – aber nicht im Sinne der Regelung – darauf reagieren.


Der Effekt zeigt sich besonders häufig bei:

  • Belohnungssystemen
  • Bürokratischen Vorgaben
  • Kontrollmechanismen
  • Wirtschaftlichen Subventionen
  • Umwelt- oder Sozialpolitik


Umweltschutz mit Nebenwirkungen

Dazu gibt es gleich eine ganze Reihe von Beispielen. Streugranulat etwa. Zuerst wurde kräftig gesalzt, um Gehwege und Straßen im Winter eisfrei zu machen. Auf manchen Hauptverkehrsstraßen wurden dabei bis zu 1,5 Kilogramm Salz pro Quadratmeter verstreut. Mit dem Frühling allerdings starben die Pflanzen, Gebäude und Brücken verschlissen im Salzbad schneller und selbst Seen, wie der oberbayrische Schliersee wiesen auf einmal einen Salzwassergehalt aus, der dem des Atlantiks verdächtig nahekam.

Es lässt sich nicht genau datieren, wann die Städte deshalb von Streusalz auf Splitt, Granulat oder Sand umstiegen, um die winterliche "Versalzung" zu stoppen. Doch nach dem Abtauen kam alles noch viel schlimmer.

Die Gehwege waren verschlammt, Splitt und Sand verstopften die Kanalisation und die Kosten für die Straßenreinigung und Kanalreparaturen wirkten wie Streusalz in den Wunden der ohnehin klammen Kommunalkassen. In einigen Städten herrscht deshalb heute striktes Granulatverbot, es darf nur noch gesalzt werden. Mit den bekannten Folgen.


Der Kobra-Effekt in Organisationen: Wenn KPIs das Denken blockieren

In der Unternehmenspraxis zeigt sich der Kobra-Effekt oft unter dem Radar, getarnt als gut gemeintes Controlling.

Viele Organisationen arbeiten mit "Key Performance Indicators" (KPIs). Messbare Leistungskennzahlen, die Klarheit schaffen und Verhalten steuern sollen. Doch was, wenn diese Zahlen beginnen, das Denken zu ersetzen?


Ein typisches Beispiel: Kundenzufriedenheit

Ein Callcenter bekommt den KPI „Anrufdauer unter 3 Minuten“. Die Idee: effizient arbeiten, Kunden schnell helfen.

Was passiert?

  • Mitarbeitende legen schneller auf – ohne echte Lösung.
  • Kunden rufen mehrfach an – Frust steigt.
  • Die gemessene Effizienz steigt, die reale Qualität sinkt.


Ein weiteres Beispiel: E-Mail-Antwortrate

Eine Abteilung erhält den Auftrag: „Antworten Sie auf 95 % aller E-Mails innerhalb von 24 Stunden.“

Ergebnis:

  • Viele E-Mails enthalten knappe „Danke“-Antworten.
  • Wichtige Anfragen werden oberflächlich abgefertigt.
  • Die Kennzahl sieht gut aus – aber niemand wird wirklich klüger.


Was hier schiefläuft:

  • Kennzahlen werden zum Selbstzweck.
  • Komplexe Wirklichkeit wird vereinfacht.
  • Mitarbeitende optimieren Verhalten für das System, nicht für das Ergebnis.


Der Kobra-Effekt zeigt sich also überall dort, wo Menschen kreativ auf Systeme reagieren, die eigentlich rational gemeint waren. Menschen reagieren nicht mechanisch – sondern kreativ auf Anreize.

Wer also Maßnahmen entwickelt, sollte sich folgende Fragen stellen:

  • Welche Verhaltensweisen werden durch meinen Anreiz wirklich gefördert?
  • Wie könnten clevere Menschen das System „umgehen“?
  • Was passiert, wenn der Anreiz wegfällt?
  • Welche unbeabsichtigten Folgen sind denkbar – im sozialen, wirtschaftlichen oder ökologischen Kontext?


Ob im Kolonial-Indien oder im Großkonzern, der Kobra-Effekt zeigt: Wenn du Menschen steuerst, ohne ihr Verhalten zu verstehen, steuerst du am Ziel vorbei. Kennzahlen sind wichtig – aber sie dürfen nicht das Denken ersetzen. Sie sollen informieren, nicht manipulieren.

Die Lösung liegt häufig nicht in mehr Kontrolle, sondern im besseren Systemdenken. Denn jede Regel erzeugt auch eine neue Möglichkeit, sie zu umgehen. Und manchmal erschaffen wir damit genau das Problem, das wir lösen wollten.


In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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