Die Psychologie des Lernens

Richard Petersen • 2. August 2025

Warum unser Gehirn ganz anders denkt als unser Schulsystem

„Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“– Antoine de Saint-Exupéry


Was macht Lernen wirklich erfolgreich? Ist es Disziplin? Intelligenz? Gute Lehrer oder schlaue Bücher?

Lernen beginnt in Wahrheit ganz woanders – in der tiefen, oft kaum greifbaren inneren Sehnsucht nach Erkenntnis, Wachstum oder Freiheit. Lernen ist keine bloße Informationsaufnahme. Lernen ist Transformation.

Doch genau diesen Wesenskern hat unser modernes Bildungssystem vielfach verloren.

Statt Neugier zu wecken, werden Prüfungen vorbereitet. Statt Begeisterung zu schüren, werden Kompetenzen abgeprüft. Wer verstehen will, wie Menschen wirklich lernen, muss einen Blick in die Psychologie werfen – und in unser Gehirn.


Die moderne Lernpsychologie weiß: Lernen ist ein Zusammenspiel von Gehirn, Körper und Gefühl. Schon in der Antike sprach Aristoteles davon, dass „nichts im Verstand ist, was nicht vorher in den Sinnen war“.

Und tatsächlich, jedes Lernen beginnt mit Wahrnehmung. Was wir sehen, hören, fühlen oder erleben, wird von unserem Gehirn analysiert, gefiltert und – wenn es als bedeutsam eingestuft wird – ins Gedächtnis überführt.

Doch hier beginnt das eigentliche Abenteuer erst.


Unser Gehirn ist kein Speicher, sondern ein extrem selektiver Filter. Pro Sekunde prasseln rund 11 Millionen Sinneseindrücke auf uns ein – bewusst verarbeiten wir davon gerade einmal etwa 40!!

Entscheidend ist also: Was zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich?

Emotionen spielen dabei eine zentrale Rolle. Dinge, die uns berühren, erschrecken oder begeistern, bleiben hängen. Deshalb erinnern wir uns eher an die peinliche Mathe-Stunde in der 6. Klasse als an das Ergebnis der letzten Klausur.

Lerntipp: Verknüpfe Lerninhalte mit persönlichen Erlebnissen, Emotionen oder Bildern. So wird dein Gehirn sie als „wichtig“ einstufen – und sie eher speichern.


Viele Menschen fürchten Fehler. Doch aus psychologischer Sicht sind sie der Motor echten Lernens. Wenn wir etwas falsch machen und es anschließend korrigieren, entstehen stärkere neuronale Verknüpfungen als beim bloßen Wiederholen richtiger Informationen.

In der Lernpsychologie spricht man von kognitiven Konflikten. Das bedeutet: Unser Gehirn stößt auf etwas Unerwartetes und beginnt, aktiv nach einer Lösung zu suchen. Dieses Ringen mit dem Unbekannten stärkt nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Denkfähigkeit. Fehler sind also keine Hindernisse sondern Sprungbretter zu tieferem Verständnis.


Lernen funktioniert nicht durch „reines Abspeichern“. Unser Gedächtnis ist dynamisch, formbar – und manchmal auch unzuverlässig. Erinnerungen werden nicht einfach archiviert, sondern bei jedem Abruf neu konstruiert. Deshalb kann Wiederholen helfen, vor allem in verteilten Abständen (Spaced Repetition). Das Gehirn liebt Wiederholung, aber hasst Langeweile. Abwechslung, Kontext und aktives Abrufen machen den Unterschied.

Statt also zehnmal das Gleiche zu lesen, versuche es mit kleinen Quizfragen, Mindmaps oder Erklärungen an andere. Aktives Erinnern wirkt stärker als passives Konsumieren.


Warum lernen manche Menschen leidenschaftlich gerne – während andere innerlich abschalten, sobald ein Lehrbuch aufgeschlagen wird? Ein Schlüssel liegt in der intrinsischen Motivation, also der inneren Lust am Lernen.

Wer lernt, weil er etwas verstehen will, bleibt länger am Ball, erinnert sich besser und entwickelt tiefere Kompetenzen als jemand, der nur auf Belohnung oder Prüfungserfolg aus ist.

Frage dich also gerne einmal: Warum will ich das lernen? Was kann ich damit anfangen? Wie verändert es mein Leben, mein Denken, meine Möglichkeiten?


Egal ob ein Schüler, eine Managerin oder ein älterer Mensch in der Umschulung: Lernen findet nur dort statt, wo Bedeutung erlebt wird. Deshalb wirken Geschichten, Bilder und persönliche Erlebnisse oft nachhaltiger als reine Fakten. Die Neurowissenschaft spricht hier vom "emotional tagging". Wenn Information emotional „markiert“ wird, wird sie tiefer verarbeitet und länger behalten. Gute Lehrende wissen das und schaffen Lernräume, die berühren. Erzähle dir selbst gerne Geschichten zum Lernstoff. Mach eine Heldengeschichte daraus. Du bist der Protagonist – das Wissen dein Werkzeug.


Kennst du das Gefühl, völlig in einer Aufgabe zu versinken? Die Zeit vergeht wie im Flug, du bist hochkonzentriert und alles scheint mühelos zu gelingen. Das ist "Flow". Ein Zustand, den der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi als Gipfelerlebnis des Lernens beschreibt.

Flow entsteht, wenn Herausforderung und Fähigkeit im Gleichgewicht sind – nicht zu leicht, nicht zu schwer, aber immer bedeutsam. Gestalte also deine Lernaufgaben so, dass sie dich fordern – aber nicht überfordern. So findest du leichter in den Flow.


Du musst deinen Alltag nicht umkrempeln, um klüger zu lernen – oft genügen kleine, gezielte Veränderungen. Hier zwei einfache, aber hocheffektive Methoden aus der Lernpsychologie, die du sofort ausprobieren kannst:


1. Die 5-Minuten-Vorschau

Bevor du mit dem Lernen beginnst, nimm dir 5 Minuten und frage dich:

  • Was will ich heute konkret verstehen?
  • Warum ist dieses Thema für mich wichtig?
  • Wie kann ich das Gelernte in meinem Leben anwenden?

Studien zeigen, dass eine gezielte mentale Vorbereitung die Aufnahmefähigkeit deutlich erhöht. Das Gehirn „stellt sich ein“ und filtert relevante Informationen aktiver heraus.


2. Die Rückblick-Frage

Am Ende deiner Lerneinheit (oder deines Arbeitstages) nimm dir 3 Minuten für diese Reflexion:

  • Was habe ich heute dazugelernt?
  • Was war überraschend?
  • Wie fühlt es sich an, das jetzt zu können?

Reflexives Lernen stärkt das Metagedächtnis – also deine Fähigkeit, über dein Lernen nachzudenken. Wer sich seiner Fortschritte bewusst wird, bleibt motivierter und lernt nachhaltiger.



Noch mehr lernen – mit Leichtigkeit?

Dann probiere in den nächsten Tagen bewusst eine der beiden Übungen aus. Beobachte, was sich verändert. In deinem Kopf, in deinem Fokus, in deinem Gefühl. Denn manchmal beginnt echtes Lernen genau dort, wo wir anfangen, es neu zu denken.


Wenn wir Lernen neu verstehen, verändert sich alles. Es geht nicht nur um Stoff, Prüfungen und Disziplin – sondern um Entwicklung, Selbstwirksamkeit und die Freude am Wachsen. Die Psychologie des Lernens zeigt: Jeder Mensch kann lernen. Immer. Und überall.

„Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man gelernt hat.“ – B.F. Skinner


In diesem Sinne,

viel Spaß beim Lernen und vielen Dank fürs Lesen,

Richard


P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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