Im Auge des Shitstorms

Richard Petersen • 26. Juli 2025

Wie Empörung im Netz entsteht, eskaliert und verändert

Ein falsches Wort, ein missverständliches Bild, eine unbedachte Werbebotschaft – und plötzlich lodert ein digitaler Flächenbrand. Willkommen im Zeitalter des "Shitstorms".
Was früher Tage oder Wochen brauchte, geschieht heute in Minuten.

Öffentliche Entrüstung, massenhafte Angriffe, Boykottaufrufe – manchmal berechtigt, oft gnadenlos.

Doch woher kommt dieser digitale Pranger? Warum lassen sich so viele Menschen so leicht mitreißen? Und kann ein Shitstorm auch etwas Gutes bewirken?


Der Begriff "Shitstorm" beschreibt einen plötzlichen, massiven Ausbruch öffentlicher Kritik, der sich meist in sozialen Netzwerken entlädt. Er ist gekennzeichnet durch:


  • eine Welle von Kommentaren (oft wütend oder verletzend),
  • das Rasantwerden der Empörung, oft binnen Stunden,
  • eine emotionale Aufladung, die rationale Auseinandersetzung verdrängt,
  • und nicht selten das soziale oder berufliche Aus der betroffenen Person.


Der Duden führt „Shitstorm“ seit 2013. Doch das Phänomen selbst ist viel älter.

Die Idee des öffentlichen Prangers ist so alt wie die Gesellschaft selbst. Schon im Mittelalter wurden Menschen mit Schandmasken auf Marktplätzen bloßgestellt, ihre Vergehen laut verlesen, das Volk durfte spotten, spucken, demütigen.

Später folgten:


  • Hexenverfolgungen, bei denen öffentliche Anklagewellen zur existenziellen Vernichtung führten – ausgelöst durch Gerüchte, Angst und den Wunsch nach sozialer Reinigung.
  • Im absolutistischen Frankreich verbreiteten sich Skandale über Flugblätter, Karikaturen und Pamphlete, was zur moralischen Delegitimierung ganzer Herrscherdynastien beitrug.
  • Im 20. Jahrhundert übernahmen Presse und Fernsehen diese Rolle: Schmähartikel, öffentliche Skandale und mediale Kampagnen prägten das Bild ganzer Persönlichkeiten – oft mit ruinösen Folgen.


Der Unterschied heute? Die "Demokratisierung" der Macht. Jeder mit einem Smartphone kann nun Teil eines digitalen Tribunals werden – ohne journalistische Prüfung, ohne Kontext, ohne Gnade.


Die Psychologie hinter dem Shitstorm und warum wir mitmachen.


1. Moralische Empörung schafft Zugehörigkeit

Wenn wir empört sind, fühlen wir uns oft moralisch überlegen – und das erzeugt ein gutes Gefühl. Der soziale Lohn: Zustimmung, Likes, Anerkennung.

2. Das Gehirn liebt Vereinfachung

Gut gegen Böse, Täter gegen Opfer – komplexe Sachverhalte werden auf klare Schuldzuweisungen reduziert. Differenzierung kostet Energie. Empörung ist einfacher.

3. Das Phänomen der „Pluralistischen Ignoranz“

Viele denken: „Alle sagen etwas – dann muss ich wohl auch etwas sagen.“ Und dabei merken sie nicht, dass jeder Einzelne dem Herdentrieb folgt.

4. Digitale Enthemmung

Durch Anonymität oder Distanz verlieren viele die Fähigkeit zur Empathie. Was bleibt, ist ein Kollektiv aus moralisch aufgerüsteten Stimmen – oft laut, selten differenziert.


Berühmte Shitstorms: Wenn ein Post das Leben verändert.

Justine Sacco – Ein Tweet, ein Absturz

Im Dezember 2013 twittert die PR-Managerin Justine Sacco vor dem Abflug nach Südafrika ironisch: „Going to Africa. Hope I don’t get AIDS. Just kidding. I’m white!“

Der Tweet geht viral, noch während sie fliegt. Unter dem Hashtag #HasJustineLandedYet fiebert Twitter (heute X) kollektiv ihrer Landung entgegen. Als sie ankommt, ist sie entlassen, gesellschaftlich geächtet, bedroht.
Ironie, Kontext, Persönlichkeit? Alles egal. Der Sturm war schneller als jede Erklärung.

Der Fall wurde weltweit diskutiert und als Paradebeispiel für "Cancel Culture" und digitale Vorverurteilung genannt, obwohl der Witz, so geschmacklos er wirkte, als kritischer Sarkasmus gegen weiße Ignoranz gemeint war.


Gina-Lisa Lohfink – Wenn das Opfer angeklagt wird

2016 steht Gina-Lisa Lohfink im Zentrum eines Justizskandals. Zwei Männer hatten sie beim Sex gefilmt – ohne ihr Einverständnis. Sie sagt: Es war keine Einwilligung, sie sei unter Medikamenteneinfluss gewesen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr stattdessen Falschaussage vor. Ein medialer Sturm bricht los. Unter dem Hashtag #TeamGinaLisa solidarisieren sich viele – aber ebenso viele zweifeln, hetzen, beschämen.

Ein digitaler Shitstorm mit zwei Fronten – und einer Frau dazwischen. Der Fall zeigte drastisch, wie digitale Empörung schnell in "Victim Blaming" (Schuldzuweisung des Opfers) umschlägt – und wie wenig Platz für Ambivalenz bleibt.


Burger King Russland – Sexismus als Werbekampagne

Während der Fußball-WM 2018 veröffentlicht Burger King Russland eine bizarre Werbebotschaft: Frauen, die sich von Fußballstars schwängern lassen, erhalten Gratis-Burger – ein Leben lang.

Die Empörung ist international. Sexistisch, entwürdigend, geschmacklos – das Urteil ist eindeutig. Der Shitstorm zwingt die Fast-Food-Kette innerhalb weniger Stunden zur Rücknahme der Kampagne. Ein Beispiel für berechtigte digitale Wut mit klarer Wirkung.


Nicht jeder Shitstorm ist blindes Zerstörungswerk. Manche entfalten ihre Kraft als moralischer Weckruf.

#Aufschrei (2013) – Der digitale Feminismus erwacht

Ausgelöst durch einen sexistischen Kommentar des FDP-Politikers Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich. Was folgte, war eine Welle von Frauenberichten über Alltagssexismus unter dem Hashtag #Aufschrei.

Der Shitstorm war laut, emotional, aber auch gesellschaftlich produktiv: Er löste eine neue Debatte über Gleichstellung, Grenzüberschreitungen und Sexismus im Alltag aus. Der Hashtag erhielt später sogar den Grimme Online Award.


Nestlé und das Wasser

Nestlé geriet mehrfach ins Kreuzfeuer – wegen Aussagen, Wasser sei kein Menschenrecht, und wegen der Privatisierung von Trinkwasserquellen. Kritik an Konzernpraktiken, Boykottaufrufe, investigative Dokus: Der digitale Protest führte zu massiven Imageproblemen, Verkaufsrückgängen und einer breiten Diskussion über globale Wassergerechtigkeit.

Ein Shitstorm, der Bewusstsein schuf – und ökonomischen Druck.


Fridays for Future vs. Siemens (2020)

Als Siemens trotz Klimakrise an einem Kohleprojekt in Australien festhält, protestiert die Fridays-for-Future-Bewegung weltweit – digital wie analog. Der öffentliche Druck zwingt den Konzern zum Gespräch mit Aktivisten. Zwar ändert Siemens den Kurs nicht vollständig – aber die Diskussion erreicht globale Schlagzeilen. Ein Beispiel dafür, wie digitale Mobilisierung politische Verantwortung einfordern kann.


Shitstorms sind Ausdruck einer Zeit, in der jede Meinung öffentlich wird – und jede Öffentlichkeit verletzlich. Sie zeigen:

  • Wie dünn die Grenze ist zwischen berechtigter Kritik und öffentlicher Hinrichtung.
  • Wie wichtig Medienkompetenz und emotionale Selbstregulation sind.
  • Wie mächtig das Netz als moralischer Raum geworden ist.


Nicht jede Empörung ist destruktiv. Aber jede braucht Verantwortung.
Denn Worte im digitalen Raum sind keine harmlosen Zeichen – sie können Existenzen stürzen oder ganze Systeme hinterfragen.

Vielleicht fragst du dich ja selbst einmal:

  • Wo habe ich selbst schon einmal mitkommentiert, ohne den Kontext genau zu kennen?
  • Bin ich bereit, Kritik zu äußern, ohne zu verletzen?
  • Würde ich denselben Kommentar auch sagen, wenn ich der Person gegenüberstünde?


In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Bevor es hier einen Shitstorm gibt:

Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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