Wilde Kinder
Und das Geheimnis der Sprachentwicklung
Es war im Jahr 1970, als Sozialarbeiter in Los Angeles ein Bild des Grauens entdeckten. In einem abgedunkelten, verwahrlosten Zimmer saß ein 13-jähriges Mädchen, das später unter dem Namen „Genie“ weltbekannt werden sollte.
Genie hatte fast ihr gesamtes Leben eingesperrt verbracht.
Ihr Vater, ein psychisch kranker Mann, hatte sie aus Angst vor einer angeblichen Behinderung von der Außenwelt isoliert. Tagsüber war sie oft an einen Töpfchenstuhl gefesselt, nachts in einen Schlafsack oder ein Kinderbettchen geschnürt, sodass sie kaum Bewegungsfreiheit hatte. Niemand sprach mit ihr. Niemand spielte mit ihr. Niemand nahm sie liebevoll in den Arm. Als man Genie schließlich befreite, offenbarte sich ein erschütterndes Bild:
- Sie konnte kaum sprechen, produzierte nur unverständliche Laute.
- Ihre Bewegungen waren abgehackt und steif, als hätte sie nie richtig laufen gelernt.
- Sie reagierte kaum auf soziale Reize, wirkte abwesend und fremd in einer Welt, die ihr neu und überwältigend erschien.
Für die Wissenschaft eröffnete sich ein tragisches, aber einzigartiges „natürliches Experiment“. Forscher stellten sich die Frage: Gibt es eine „kritische Phase“ für den Spracherwerb?
Intensive Förderprogramme begannen. Sprachtherapie, Psychotherapie, pädagogische Betreuung. Genie lernte tatsächlich einige Wörter und konnte einfache Bedürfnisse äußern. Doch komplexe Sprache, insbesondere Grammatik und Satzbau, blieben ihr verschlossen. Sie konnte Dinge benennen, aber keinen flüssigen Dialog führen.
Die Schlussfolgerung war bahnbrechend. Das menschliche Gehirn braucht frühe sprachliche Stimulation, um die volle Sprachfähigkeit zu entwickeln. Ist dieses Zeitfenster, die sogenannte kritische Periode, überschritten, lassen sich bestimmte Strukturen kaum mehr ausbilden.
Genies Schicksal bleibt tragisch. Nach wechselnden Pflegefamilien und Rückschlägen zog sie sich später weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Über ihr heutiges Leben ist nur wenig bekannt, um ihre Privatsphäre zu schützen. Doch ihr Name ist untrennbar mit einer der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Entwicklungspsychologie verbunden.
Über 170 Jahre vor Genie sorgte in Frankreich ein anderer Fall für Aufsehen. Ende des 18. Jahrhunderts machten Dorfbewohner in den Wäldern von Aveyron eine erstaunliche Entdeckung. Einen etwa 11-jährigen Jungen, der nackt, verwahrlost und offenbar ohne menschlichen Kontakt gelebt hatte. Er aß Wurzeln und Beeren, trank aus Bächen und schien völlig auf ein Leben in der Wildnis angepasst.
Der Junge, später Victor von Aveyron genannt, wurde in die Gesellschaft gebracht und erregte sofort das Interesse von Ärzten, Pädagogen und Philosophen. Denn er schien wie ein lebendiger Beweis für die Frage was den Menschen zum Menschen macht?
Der junge Arzt Jean Itard nahm sich Victor an. Itard war überzeugt, dass Erziehung und soziale Nähe den wilden Jungen „zivilisieren“ könnten. Jahrelang arbeitete er mit ihm.
- Er versuchte, Victor Sprache beizubringen – zunächst durch Schriftzeichen, dann durch Laute.
- Er führte ihn in einfache Routinen wie Hygiene und Essen ein.
- Er bemühte sich, bei Victor Gefühle von Zuneigung und Empathie zu wecken.
Doch die Fortschritte blieben bescheiden. Victor lernte einige Wörter, verstand einfache Anweisungen und entwickelte ein Minimum an sozialer Bindung. Doch eine komplexe Sprache beherrschte er nie, und er blieb in vielen Situationen gefühlskalt und unzugänglich.
Sein Fall löste eine lebhafte Debatte aus. Waren Victors Defizite Folge seiner Isolation, oder war er von Geburt an geistig beeinträchtigt? Sicher ist: Ohne frühe Sozialisation konnte er nicht zu einem „vollständigen“ Mitglied der Gesellschaft werden.
Itard dokumentierte seine Arbeit akribisch. Seine Berichte wurden zu Klassikern der Pädagogik und Psychologie und inspirierten spätere Konzepte der Sonderpädagogik. Victor selbst verbrachte den Rest seines Lebens in der Obhut einer Pflegefamilie.
Ob Genie oder Victor – beide Schicksale weisen auf dieselbe fundamentale Wahrheit hin:
- Sprache hat eine sensible Phase. Kinder müssen in den ersten Lebensjahren Sprache hören und üben, sonst bleibt ihr Sprachvermögen für immer begrenzt.
- Soziale Nähe formt das Ich. Bindung, Berührung und Austausch sind entscheidend, um Empathie und Identität zu entwickeln.
- Ohne Interaktion keine Kultur. Sprache, Werte und Kreativität entstehen nur im Dialog mit anderen Menschen.
Genie steht für das 20. Jahrhundert. Eine Gesellschaft, die entdeckte, dass selbst modernste Wissenschaft nicht nachholen kann, was in der Kindheit versäumt wurde.
Victor steht für das 19. Jahrhundert. Eine Epoche, die noch zwischen „Naturzustand“ und „Zivilisation“ rang und den Menschen als „unbeschriebenes Blatt“ sah.
Beide Kinder aber zeigen: Menschlichkeit wächst in Gemeinschaft. Ohne Sprache, ohne Nähe, ohne Fürsorge bleiben wir zurück. Körperlich vielleicht am Leben, doch seelisch abgeschnitten von der Welt.
Die tragischen Geschichten von Genie und Victor sind mehr als Kuriositäten der Psychologiegeschichte. Sie berühren eine grundlegende Frage. Was brauchen wir, um Menschen zu werden?
Die Antwort ist klar:
Sprache, Zuwendung und soziale Nähe. Und das zur richtigen Zeit.
In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,
Richard
P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.