Wenn die Seele den Körper sprechen lässt

Richard Petersen • 4. Juli 2025

Was hinter einer Konversionsstörung steckt

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und kannst plötzlich nicht mehr sprechen. Oder deine Beine gehorchen dir nicht mehr. Du landest in der Notaufnahme, doch die Untersuchungen ergeben, dass du körperlich vollkommen gesund bist. Kein Schlaganfall, kein Tumor, keine neurologische Ursache. Und trotzdem sind deine Symptome real.

Willkommen in der verstörenden Welt der "Konversionsstörung". Einem psychischen Phänomen, bei dem seelische Konflikte körperliche Symptome auslösen.

Die Konversionsstörung  – heute offiziell in der ICD-11 unter „Dissoziative Störung der Bewegung oder Empfindung“ (6B60) geführt – beschreibt eine Form der körperlichen Symptomatik ohne organische Ursache, bei der psychische Konflikte unbewusst in neurologisch wirkende Beschwerden umgewandelt („konvertiert“) werden.


Typische Symptome sind:

  • Lähmungen oder Bewegungsausfälle (z. B. ein Bein ist wie „gelähmt“)
  • Krampfanfälle ohne epileptische Aktivität
  • Blindheit, Taubheit oder Sprachverlust
  • Gangstörungen oder Koordinationsprobleme


Die betroffenen Personen simulieren diese Symptome nicht – sie erleben sie als real, was sie besonders belastend macht.

Konversionsstörungen  sind kein neues Phänomen. Bereits im 19. Jahrhundert beschäftigten sie die größten Gelehrten ihrer Zeit. Damals sprach man noch von „Hysterie“,  ein Begriff, der zu Unrecht vor allem mit Frauen in Verbindung gebracht wurde.

Ein berühmter Fall ist der der Anna O., Patientin von Josef Breuer, einem Kollegen Sigmund Freuds. Anna O. litt unter Lähmungen, Sprachverlust und Sehstörungen – ohne dass ein medizinischer Befund vorlag. Sie entwickelte ihre Symptome in einer Phase starker seelischer Belastung. Breuer behandelte sie mit Hypnose – und bemerkte, dass die Symptome verschwanden, sobald sie über verdrängte emotionale Erlebnisse sprach. Freud übernahm den Fall später in seine Theorie des Unbewussten – und machte ihn weltberühmt. Lies dazu gerne auch diesen spannenden Blog.


Auch heute erleben wir immer wieder Fälle von Konversionsstörungen. Oft im Verborgenen, manchmal aber auch spektakulär öffentlich.

Im Jahr 2009 sorgte die damals 25-jährige Desiree Jennings, eine begeisterte Cheerleaderin der „Washington Redskins“ (US-Football Team, heute "Washington Commanders"), für weltweites Aufsehen. Nach einer Grippeschutzimpfung entwickelte sie plötzlich dramatische neurologische Symptome. Ihre Sprache war stark verwaschen, und sie konnte sich nur noch rückwärts oder mit grotesk wirkenden Bewegungen fortbewegen. Aufnahmen zeigten eine junge Frau, die scheinbar schwerstbehindert war und dennoch beim Laufen plötzlich flüssig sprechen konnte. Beim Joggen wirkte alles „normal“. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirkt, ist aus Sicht der funktionellen Neurologie geradezu typisch. Bewegungsabläufe wie Joggen sind oft stark automatisiert, laufen unbewusst ab und entziehen sich damit dem Zugriff der psychischen Störung. Bewusst gesteuerte Handlungen wie Gehen oder Sprechen hingegen sind stärker mit Aufmerksamkeit, Kontrolle und Erwartungsdruck verknüpft – genau hier greifen die Symptome der Konversionsstörung ein. Desirees scheinbar paradoxe Fähigkeit, beim Joggen flüssig zu sprechen, ist also kein Trick, sondern ein Hinweis auf die nicht-organische, funktionelle Natur ihrer Beschwerden. Der Körper funktioniert, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Dieses Phänomen wird auch als „paradoxes Funktionsmuster“ bezeichnet und ist ein diagnostisches Kernmerkmal funktioneller neurologischer Störungen.

Die mediale Aufmerksamkeit brachte den Fall weltweit in Umlauf, doch Fachleute waren sich einig, dass keine klassische neurologische Erkrankung vorlag, sondern eine psychogene Bewegungsstörung – ausgelöst durch psychischen Stress, nicht durch die Impfung. Jennings zog sich später aus der Öffentlichkeit zurück.


Marilyn Monroe – Ikone des 20. Jahrhunderts, Sinnbild für Schönheit, Zerbrechlichkeit und inneren Schmerz. Hinter dem strahlenden Lächeln der Filmdiva verbarg sich eine zutiefst traumatisierte Frau. Schon als Kind hatte Norma Jeane Mortenson, so ihr Geburtsname, Missbrauch, Instabilität und emotionale Kälte erlebt. In ihrer Karriere wurde sie zunehmend von Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Symptomen geplagt.

Zahlreiche Biografien berichten von unerklärlichen Schwächezuständen, „Blackouts“ und plötzlichen Stimmverlusten, die sie immer wieder vom Set fernhielten. Es gab Phasen, in denen sie kaum gehen konnte oder ihre Zeilen vergaß, trotz intensiver Proben. Ihre Ärzte diagnostizierten „nervöse Erschöpfung“, andere vermuteten dissoziative Episoden oder eine konversionsartige Symptomatik. Besonders auffällig war, dass in Situationen von extremem Erwartungsdruck oder emotionaler Überforderung ihre Symptome vermehrt auftraten. Zwar wurde nie offiziell eine Konversionsstörung  diagnostiziert aber viele Symptome, die Marilyn zeigte, sind klassisch für psychogene Störungen. Sie tauchen auf, wenn der seelische Druck überhand nimmt und verschwinden mitunter wieder, wenn das Umfeld sich verändert. Marilyn Monroe ist damit nicht nur eine Filmlegende, sondern auch ein tragisches Beispiel für den inneren Kampf zwischen öffentlicher Rolle und verletztem Selbst.


Eine Konversionsstörung  entsteht häufig in emotional belastenden Lebenssituationen. Der psychische Konflikt ist dabei meist nicht bewusst. Der Körper springt ein, wie ein Übersetzer des Unaussprechlichen.

Beispiel: Eine junge Frau, die seit Monaten unter enormem familiären Druck steht, verliert plötzlich ihre Stimme. Der Körper sagt, was die Psyche nicht kann: „Ich kann nicht mehr sprechen.“

Manche Forschende sprechen vom psychischen Kurzschluss. Ein innerer Konflikt wird auf den Körper umgeleitet, weil es „keine andere Sprache“ gibt, um ihn auszudrücken.


Wie kann man eine Konversionsstörung behandeln?

Die wichtigste Botschaft an Betroffene lautet: „Du bildest dir das nicht ein.“ Die Symptome sind echt, sie entstehen nur auf andere Weise als bei einer organischen Erkrankung.

Therapieansätze sind u. a.:

  • Psychotherapie, insbesondere traumafokussierte Verfahren
  • Hypnosetherapie, um unbewusste Konflikte zu bearbeiten
  • Körperpsychotherapie und achtsamkeitsbasierte Methoden
  • In manchen Fällen Rehabilitation, um Bewegungsabläufe wieder zu trainieren


Entscheidend ist, das Vertrauen in den eigenen Körper zurückzugewinnen und den verborgenen seelischen Konflikt ans Licht zu bringen.

Die Konversionsstörung zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie eng Körper und Psyche miteinander verwoben sind. Sie erinnert uns daran, dass der Körper nicht lügt, sondern manchmal nur eine andere Sprache spricht.


In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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