Ich bin viele

Richard Petersen • 11. Juli 2025

Die rätselhafte Welt der dissoziativen Identitätsstörung

„Ich bin nicht krank. Ich bin viele.“
Dieser Satz stammt nicht aus einem Roman, sondern von einer Frau, die jahrelang mit über einem Dutzend Persönlichkeiten lebte. Jede mit eigener Handschrift, eigener Stimme, eigenen Vorlieben.

Die Rede ist von einer der rätselhaftesten psychischen Störungen überhaupt: der dissoziativen Identitätsstörung (DIS), früher auch als „multiple Persönlichkeitsstörung“ bekannt.


Nach der aktuellen internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11, WHO 2022) gehört die Dissoziative Identitätsstörung (6B64) zur Gruppe der dissoziativen Störungen, die durch eine Störung der Integration von Bewusstsein, Identität, Gedächtnis, Wahrnehmung und Kontrolle über Körperbewegungen gekennzeichnet sind.


Die Störung ist gekennzeichnet durch:

  • das Vorhandensein von zwei oder mehr voneinander unterscheidbaren Identitäten innerhalb einer Person,
  • begleitet von reziproker Amnesie (eine Identität weiß oft nicht, was eine andere erlebt hat),
  • sowie einem wiederkehrenden Kontrollverlust über Verhalten, Erinnerungen oder Empfindungen, der das tägliche Leben erheblich beeinträchtigt.


Diese Identitäten können deutlich unterschiedliche Geschlechter, Altersstufen, Persönlichkeitsmerkmale oder Verhaltensweisen aufweisen. Die Störung geht nicht auf Substanzeinfluss oder neurologische Erkrankungen zurück und ist kein Bestandteil einer kulturell akzeptierten Praxis.


In fast allen dokumentierten Fällen beginnt die Entwicklung einer DIS bereits im frühen Kindesalter, häufig vor dem fünften Lebensjahr. Der häufigste Auslöser ist chronische, extreme Traumatisierung. Sexueller Missbrauch, schwere körperliche Gewalt, emotionale Vernachlässigung oder auch rituelle Misshandlungen.

Ein kleines Kind kann solch überwältigende Erlebnisse nicht in ein zusammenhängendes Selbst integrieren. Als Schutzmechanismus spaltet die Psyche bestimmte Empfindungen, Erinnerungen oder Reaktionen ab.

Über die Zeit entstehen „Anteile“ oder „Innenpersonen“, die jeweils spezifische Aufgaben übernehmen. Schutz, Wut, soziale Anpassung, Verdrängung, oder auch das Tragen des Schmerzes.

Diese „Innenpersonen“ entwickeln oft eigene Namen, Biografien, Stimmen, sogar unterschiedliche Seh- oder Hörfähigkeiten, Handschriften oder physiologische Reaktionen.


Der wohl bekannteste Fall einer DIS ist der von Shirley Ardell Mason (1923–1998), einer amerikanischen Kunstlehrerin, deren Geschichte unter dem Pseudonym „Sybil“ weltberühmt wurde. Ihre Kindheit war von extremem Missbrauch durch ihre Mutter geprägt, die vermutlich selbst schwer psychisch krank war. Shirley erlebte in jungen Jahren Zwangsernährung, Isolation, sexuelle Gewalt und Demütigung – wiederholt, systematisch und über Jahre hinweg.

Als Erwachsene suchte sie wegen Angstzuständen und Blackouts eine Psychotherapeutin auf, die zunächst von Schizophrenie ausging – bis andere Persönlichkeiten auftauchten. Die Therapeutin begann eine langjährige Behandlung und dokumentierte 16 unterschiedliche Identitäten, darunter:


  • Peggy Lou – ein kleines, 9-jähriges Mädchen, verspielt und naiv.
  • Marcia – eine suizidale, tief depressive Persönlichkeit.
  • Vicky – intelligent, französisch sprechend, künstlerisch begabt.
  • Mike – männlich, aggressiv und beschützend.


Sybil selbst erinnerte sich an nichts von dem, was ihre anderen Identitäten erlebten. Erst durch behutsame Therapie kamen Bruchstücke ihrer Vergangenheit zurück.

Die Geschichte wurde 1973 als Buch veröffentlicht (Sybil von Flora Rheta Schreiber) und später verfilmt. Sie löste weltweites Interesse, aber auch Kritik und Skepsis aus. Heute gilt der Fall als klinisch bedeutsam, aber auch als Beispiel für die Risiken therapeutischer Beeinflussung. Trotzdem steht Shirley Mason exemplarisch für viele Betroffene. Menschen mit einem traumatisierten Innenleben, das in viele Teile zerbrach.


Kim Noble, geboren 1960 in England, lebt heute mit über 20 eigenständigen Persönlichkeitsanteilen, von denen viele selbstständig malen, schreiben, sprechen oder handeln. Ihre Bilder sind international ausgestellt, weil sie – je nach malender Persönlichkeit – völlig unterschiedliche Stile, Farbpaletten und Ausdrucksformen aufweisen.

Als Kind war Kim Opfer organisierter Gewalt und rituellen Missbrauchs – die genauen Erinnerungen sind fragmentiert. Manche Identitäten besitzen Wissen, das anderen fehlt. In der Öffentlichkeit erscheinen am häufigsten:


  • Patricia – rational, freundlich, spricht in Interviews und führt den Alltag.
  • Bonny – eine kindliche Persönlichkeit, fröhlich und verspielt.
  • Judy – eine melancholische Figur mit dunklen, düsteren Kunstwerken.
  • Dawn – eine Persönlichkeit, die sich selbst als männlich identifiziert und sehr analytisch wirkt.


Erst im Erwachsenenalter wurde ihre Diagnose gestellt, nachdem sie mehrfach psychiatrische Kliniken aufgesucht hatte und sich nicht erklären konnte, warum fremde Menschen sie erkannten oder sie Bilder malte, an die sie sich nicht erinnerte.

Ihre Autobiografie („All of Me“) und zahlreiche Dokumentationen (z. B. "The Woman with 20 Personalities") gewähren einen tiefen Einblick in das Leben mit DIS. Kim Noble lebt heute mit therapeutischer Begleitung, hohem Maß an Selbstfürsorge und einem Anliegen: Aufklärung und Anerkennung für Menschen mit komplexem Trauma.


DIS zeigt sich oft versteckt, viele Betroffene leben lange Jahre unbemerkt mit der Störung. Meist mit folgenden Merkmalen:


  • Blackouts oder Amnesien („Ich kann mich nicht erinnern, wie ich dorthin kam…“)
  • Verändertes Verhalten oder Auftreten (plötzlicher Wechsel in Stimme, Gang, Kleidung)
  • Unerklärliche Objekte, Kleidung oder Kontakte
  • Starke innere Konflikte oder Stimmen (nicht halluziniert, sondern „innen gehört“)
  • Chronische emotionale Instabilität
  • Dissoziative Zustände: wie in Watte gepackt, neben sich stehend, wie fremdgesteuert


Viele leben zusätzlich mit Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Beschwerden oder Essstörungen – was die Diagnose weiter erschwert.


Kann man heilen? Ja, aber es braucht Zeit, Verständnis und eine fundierte therapeutische Begleitung.
Ziel der Therapie ist nicht zwangsläufig eine
„Integration“ aller Anteile zu einer einzigen Persönlichkeit, sondern häufig ein kooperatives System, in dem die inneren Persönlichkeiten einander akzeptieren, miteinander kommunizieren und sich abstimmen. Erprobte Ansätze sind u. a.:


  • Traumatherapie & Stabilisierung (z. B. nach Reddemann oder Peters)
  • Ego-State-Therapie (Arbeit mit den „Ich-Zuständen“)
  • Hypnotherapie (vorsichtig, mit erfahrenen Fachleuten)
  • EMDR (mit Vorsicht und starker Stabilisierung vorab)


Filme wie "Split" oder "Fight Club" haben das öffentliche Bild der dissoziativen Identitätsstörung oft verzerrt oder überdramatisiert. In Wahrheit sind Menschen mit DIS keine Gefahr für andere, sondern meist tief verletzte Überlebende, die einen außergewöhnlichen Schutzmechanismus entwickelt haben. Was sie brauchen, ist Verständnis, Geduld, Würde und professionelle Hilfe.


Die dissoziative Identitätsstörung konfrontiert uns mit der unglaublichen Fähigkeit der Psyche, sich zu schützen, auch um den Preis der Spaltung.  Ein Mensch. Viele Anteile. Und dennoch: ein Ganzes, das es verdient, gesehen zu werden.


In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P.S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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