Der Matilda-Effekt

Richard Petersen • 16. Mai 2025

Wenn Frauen die Welt verändern - und Männer den Ruhm bekommen

Stell dir vor, du entdeckst etwas Bahnbrechendes. Einen wissenschaftlichen Durchbruch, der dein Fachgebiet für immer verändert. Doch statt deines Namens taucht in der Publikation der eines Kollegen auf. Den Nobelpreis erhält jemand anderes. Du wirst übergangen, vergessen, kleingeschrieben – nicht, weil deine Arbeit nicht herausragend war, sondern weil du eine Frau bist.

Klingt ungerecht? Ist es auch. Und leider kein Einzelfall. Solche Geschichten ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Wissenschaft. Die Betroffenen sind brillante Forscherinnen, deren Beiträge entweder anderen zugeschrieben oder schlichtweg ignoriert wurden.

Dieses Muster hat einen Namen: der "Matilda-Effekt". Und es ist höchste Zeit, ihn genauer anzuschauen – gemeinsam mit seinem „großen Bruder“, dem Matthew-Effekt, der das strukturelle Ungleichgewicht im wissenschaftlichen Ruhm ebenfalls sichtbar macht.


Der Begriff wurde in den 1990er Jahren von der US-amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter geprägt. Er beschreibt das Phänomen, dass die Leistungen von Frauen in der Wissenschaft systematisch  weniger anerkannt werden – oder sogar männlichen Kollegen zugeschrieben werden.

Benannt ist er nach Matilda Joslyn Gage, einer Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts, die bereits damals beobachtete, dass Männer für Ideen gefeiert wurden, die von Frauen stammten – ob in Literatur, Medizin, Technik oder Wissenschaft.

Rossiter zeigte in ihrer Forschung, dass dies keine zufälligen Einzelfälle waren. Es handelt sich um ein strukturelles Muster, das tief in den Systemen wissenschaftlicher Anerkennung verwurzelt ist. Frauen wurden in Fußnoten versteckt, aus Publikationen gestrichen oder gar ganz aus der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung gelöscht.

Parallel dazu gibt es den Matthew-Effekt (im Deutschen auch als Matthäus-Effekt bekannt), benannt nach einem Bibelvers aus dem Matthäusevangelium:

„Denn wer da hat, dem wird gegeben, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ (Matthäus 25,29) Lies dazu gerne auch diesen Blog.


Der Soziologe Robert K. Merton übertrug dieses Prinzip 1968 auf die Wissenschaft.

Seine Beobachtung: Ruhm zieht Ruhm an. Bedeutet konkret:


  • Forschende mit großem Namen bekommen häufiger Preise, Zitate, Aufmerksamkeit – selbst wenn sie nicht allein für eine Entdeckung verantwortlich sind.
  • Weniger bekannte Wissenschaftler*innen – darunter überproportional viele Frauen – bleiben unsichtbar, auch wenn sie die Hauptarbeit geleistet haben.


Der Matthew-Effekt erklärt also die ungleiche Verteilung von Anerkennung, während der "Matilda-Effekt" aufzeigt, wie systematisch Frauen in diesem Prozess benachteiligt werden.

Um diese Mechanismen greifbarer zu machen, werfen wir einen Blick auf Frauen, die Großartiges geleistet haben und trotzdem (fast) leer ausgingen:


Rosalind Franklin – Die unsichtbare Heldin der DNA

Das Modell der DNA-Doppelhelix kennt heute jedes Schulkind. Weltberühmt wurden dafür James Watson und Francis Crick, die 1953 die Struktur der DNA veröffentlichten. Doch was in vielen Lehrbüchern verschwiegen wird ist, dass den entscheidenden Durchbruch Rosalind Franklin ermöglichte.

Die britische Biophysikerin fertigte mithilfe der Röntgenkristallografie das berühmte „Foto 51“ an – eine Aufnahme, die die Struktur der DNA deutlich zeigte. Dieses Bild gelangte ohne ihre Zustimmung an Watson und Crick. Sie nutzten es, um ihr Modell zu verfeinern. In der späteren Nobelpreisverleihung 1962 wurde Franklin nicht erwähnt. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben – ihr Name geriet über Jahrzehnte in den Hintergrund.


Lise Meitner – Die Mutter der Kernspaltung

Lise Meitner, eine österreichisch-schwedische Physikerin, arbeitete eng mit Otto Hahn zusammen. Gemeinsam untersuchten sie die Spaltung von Atomkernen – ein Prozess, der später zur Entwicklung der Atomenergie (und leider auch der Atombombe) führte. Als Jüdin musste Meitner 1938 vor den Nazis fliehen. Aus dem Exil lieferte sie die entscheidende theoretische Erklärung der Kernspaltung, die Hahn in seinem Labor beobachtet hatte.

Doch 1944 erhielt Otto Hahn allein den Nobelpreis für Chemie. Meitners Name fehlte. Erst posthum wurde sie in der Fachwelt rehabilitiert – viele bezeichnen sie heute als die „eigentliche“ Entdeckerin der Kernspaltung.


Jocelyn Bell Burnell – Die Studentin, die die Sterne hörte

1967 entdeckte die Doktorandin Jocelyn Bell Burnell regelmäßig auftretende Radiosignale aus dem All – die später als Pulsare identifiziert wurden: rotierende Neutronensterne mit extrem hoher Dichte und Geschwindigkeit.

Es war eine der größten Entdeckungen der Astronomie im 20. Jahrhundert. Doch den Nobelpreis 1974 erhielt ihr Doktorvater Antony Hewish – der ihre Ergebnisse zunächst anzweifelte. Jocelyn Bell Burnell wurde nicht einmal erwähnt. Jahrzehnte später sagte sie mit bewundernswerter Gelassenheit: „Doktoranden bekommen eben keine Nobelpreise.“ Doch viele Fachkollegen widersprachen heftig – die Entdeckung war eindeutig ihr Verdienst. 2018 erhielt sie einen mit drei Millionen Pfund dotierten Sonderpreis – den sie komplett spendete, um Stipendien für unterrepräsentierte Gruppen in der Wissenschaft zu finanzieren.


Mary Whiton Calkins – Die (nicht anerkannte) Pionierin der Psychologie

Mary Whiton Calkins war eine brillante Psychologin und Philosophin – und die erste Frau, die Präsidentin der American Psychological Association (APA) wurde (1905). Sie entwickelte eine "Theorie des Selbst" und forschte zu Gedächtnis, Träumen und Bewusstsein. Trotzdem wurde ihr der Doktortitel von Harvard verweigert, weil sie eine Frau war – obwohl sie alle Anforderungen erfüllt und unter bekannten Professoren wie William James studiert hatte. Ihr Fall ist ein klassisches Beispiel für den "Matilda-Effekt": Ihre Arbeit war exzellent, doch ihr Geschlecht verhinderte die Anerkennung.


Der "Matilda-Effekt" zeigt sich auch und gerade in einem Fach wie der Psychologie, das sich mit menschlichem Verhalten, Identität und Gerechtigkeit beschäftigt. Ironischerweise waren es genau diese Themen, zu denen Frauen bedeutende Beiträge lieferten – ohne dafür die gebührende Anerkennung zu bekommen.

Ob Gedächtnisforschung, Intelligenzdiagnostik, Sozialpsychologie oder Entwicklungspsychologie: Frauen haben viele Grundpfeiler der Disziplin mitgelegt – doch ihre Namen blieben oft im Schatten.


Hat sich heute etwas verändert? Ja – aber nicht genug.

Es gibt mehr Bewusstsein für strukturelle Ungleichheiten in der Wissenschaft. Förderprogramme, Gleichstellungsbeauftragte, gezielte Netzwerke für Frauen und mehr Sichtbarkeit in der Wissenschaftskommunikation zeigen Wirkung. Und doch:  Statistiken belegen, dass Frauen noch immer



  • seltener Forschungsförderung erhalten,
  • seltener auf Professuren berufen werden,
  • seltener zitiert werden als Männer.


Auch im digitalen Raum zeigt sich ein „Matilda-Effekt“. Studien deuten darauf hin, dass Beiträge von Wissenschaftlerinnen auf Social Media – trotz ähnlicher Inhalte – weniger Likes, Retweets und Interaktionen bekommen als die von Männern.


Warum das wichtig ist – für uns alle. Es geht hier nicht „nur“ um Gerechtigkeit. Wissenschaft lebt davon, dass Erkenntnisse offen zugänglich sind und auf früherer Arbeit aufbauen. Wenn aber ganze Gruppen aus dem wissenschaftlichen Gedächtnis getilgt werden, wird dieses Fundament brüchig. Und es hat reale Folgen. Junge Wissenschaftlerinnen, die sehen, dass selbst brillante Forscherinnen übergangen wurden, verlieren Vertrauen – oder den Mut, ihren Weg weiterzugehen.

Der "Matilda-Effekt" ist ein Spiegel unserer Geschichte – und unserer Gegenwart. Aber er muss nicht  Teil unserer Zukunft sein. Indem wir die Geschichten von Rosalind Franklin, Lise Meitner, Jocelyn Bell Burnell, Mary Whiton Calkins und vielen anderen sichtbar machen, tun wir mehr als historische Gerechtigkeit. Wir schaffen Vorbilder, ermutigen junge Talente – und stärken die Wissenschaft als Ganzes.

Denn eines ist klar: Die Zukunft der Forschung ist weiblich. Wenn wir sie lassen.


Du kennst inspirierende Frauen in der Wissenschaft? Dann teile ihre Geschichten! Schreib über sie! Sprich über sie! Unterstütze sie! Denn jede Veränderung beginnt mit dem Sichtbarmachen.


In diesem Sinne, vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P.S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter

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