Hypnosepraxis am Sachsenwald       Richard Petersen 

Psychotherapie / Hypnosetherapie                                                   21465 Reinbek, Am Rosenplatz 8                               

Der Semmelweis-Effekt

Richard Petersen • Mai 03, 2024

Wenn Vorurteile den Fortschritt behindern

Kennst du Menschen, die neue Ideen und Entdeckungen grundsätzlich ablehnen, weil sie nicht ihren konventionellen Überzeugungen entsprechen?

Diese kognitive Voreingenommenheit wird als "Semmelweis-Effekt" (auch Semmelweis-Reflex) bezeichnet.


Der Semmelweis-Effekt beschreibt die Tendenz, neue Erkenntnisse ohne Reflexion oder Überprüfung abzulehnen, weil sie den etablierten Überzeugungen widersprechen. Wenn wir in die Geschichte blicken, finden wir zahlreiche Beispiele, die deutlich machen, dass Vorurteile, Religionen und Pseudowissenschaften oft mächtiger als wissenschaftliche Entdeckungen sind.


Ein Beispiel dafür ist Giordano Bruno (1548 - 1600), ein Dominikanermönch und ein brillanter Astronom, der es wagte, das Modell von Nikolaus Kopernikus zu verteidigen.

Er behauptete im 16. Jahrhundert, dass die Sonne ein Stern ist, um den sich andere Planeten drehen. Außerdem war er davon überzeugt, dass es im Universum unzählige andere Welten mit verschiedenen Lebensformen gibt.

Bruno wurde als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.


Betrachten wir dieses psychologische Phänomen, das wir auch in unserer modernen Gesellschaft häufig beobachten können.


Forschungen des amerikanischen Arztes Vipin K. Gupta zeigen, dass es sich um ein uraltes Vorurteil handelt, einen Denkfehler, der im menschlichen Verstand verankert ist. Wir alle halten lieber an bestehenden Überzeugungen und Theorien fest und sind skeptisch gegenüber neuen Ideen und Erkenntnissen.

“Das haben wir schon immer so gemacht” ist ein Gedanke, der den Fortschritt behindert. Viele Wissenschaftler und Visionäre mussten und müssen gegen Windmühlen kämpfen.

Beispiele sind u. A. der legendäre Autobauer Henry Ford: "Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie brauchen, hätten sie geantwortet "Bessere Pferde". Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie oder Steve Jobs, der Gründer von Apple.

Heute stellt niemand die revolutionären Ideen dieser außergewöhnlichen Persönlichkeiten infrage.


Im Extrem sorgt der Semmelweis-Effekt dafür, dass das wissenschaftliche Establishment die den Normen oder Überzeugungen widersprechenden Forschungsergebnisse ohne weitere Überprüfung sogar vehement bekämpft und die Urheber diffamiert.


Seinen Namen verdankt der Semmelweis-Effekt der traurigen Geschichte von Ignaz Semmelweis (1818-1865), einem ungarisch-österreichischen Chirurgen und Geburtshelfer, der nach seinem Doktor-Abschluss zunächst in Wien arbeitete.

Semmelweis war der Arzt, der vor rund 200 Jahren erkannte, dass Hygiene und Desinfektion Leben retten kann.


Der Mann, den sie später den „Retter der Mütter“ nannten, wurde sein Leben lang von seinen Kollegen gehasst, gemieden und gemobbt. Am Ende erlitt er darüber einen Nervenzusammenbruch und starb in einer „Nervenheilanstalt“ – einsam und unter bis heute ungeklärter Ursache.

Dabei verdanken Ignaz Philipp Semmelweis bis heute Millionen Menschen und Mütter ihr Leben – ohne es zu wissen.


Dies ist seine Geschichte.

Ignaz Semmelweis war gerade 28 als er 1846 Assistenzarzt in der Geburtsabteilung des Kaiser Josef II. Krankenhauses in Wien wurde. In jener Zeit starben jedes Jahr allein in Wien rund 2000 Frauen am sogenannten Wochenbettfieber (Kindbettfieber) – einer Infektionskrankheit, bei der Keime über die Gebärmutter eindringen und zu einer tödlichen Blutvergiftung (Sepsis) führen.


Die tückische Erkrankung betraf nicht nur die österreichische Hauptstadt. Im 19. Jahrhundert kostete das Kindbettfieber allein in Europa über eine Million Frauen das Leben. Ein Kind zu gebären, war damals mindestens so riskant wie eine Lungenentzündung.

Als Semmelweis seine Stelle antrat, lag die Sterblichkeit von jungen Müttern auf seiner Station bei rund 18 Prozent, in anderen Kliniken sogar bei 30 Prozent.

Das heißt: Mehr als jede vierte Frau starb bei der Geburt ihres Kindes. Aber das galt nicht auf allen Stationen!

Auf Semmelweis’ Station, wo zahlreiche weitere Ärzte und Medizinstudenten arbeiteten, starben deutlich mehr Frauen als in der Station nebenan, in der nur Hebammenschülerinnen ausgebildet wurden.

Den jungen ungarischen Arzt machte das misstrauisch.

Also untersuchte er die Mütter noch gründlicher als sonst. Keine gute Idee! Nun stieg die Zahl der Todesfälle noch dramatischer an, sodass sich werdende Mütter bald weigerten, hier niederzukommen. Semmelweis war darüber völlig verzweifelt. Es schlief schlecht und machte sich schwere Vorwürfe.

Er, der Menschen doch helfen und neues Leben zur Welt bringen wollte, sollte Schuld am Tod von vielen Müttern sein? Ein grotesker Gedanke. Jedoch einer, der ihn nicht mehr ruhen ließ. So vertraute er sich seinem Freund und Kollegen an, dem Gerichtsmediziner Jakob Kolletschka.


Es schien, als laste ein böser Fluch auf Semmelweis. Während einer Leichensektion wurde Kolletschka von einem seiner Studenten mit dem Skalpell verletzt. Nur ein kleiner Schnitt, doch der reichte. Innerhalb weniger Tage starb Kolletschka an einer Blutvergiftung. Sein Krankheitsverlauf zeigte jedoch so viele Parallelen zu den Fällen auf der Wöchnerinnenstation, dass Semmelweis hellhörig wurde – und diesmal fand er die Lösung.


Tatsächlich untersuchten die Ärzte und Nachwuchsmediziner seiner Abteilung auch die verstorbenen Mütter. Im ständigen Wechsel behandelten sie werdende Mütter und sezierten Leichen – jedoch ohne sich zwischendurch die Hände zu waschen oder zu desinfizieren!

Heute undenkbar, aber vor rund 200 Jahren war Hygiene im Krankenhaus schlicht unüblich und keiner kam auch nur entfernt auf die Idee, dass dabei Tausende Keime und Bakterien übertragen werden.

Die Hebammen-Schülerinnen dagegen führten weder vaginale Untersuchungen durch, noch kamen sie mit Leichen in Berührung. Entsprechend niedrig war bei ihnen die Rate der infizierten Wöchnerinnen.


Es war die Eingebung seines Lebens, für die Semmelweis nun kräftig Werbung machte. Nach jeder Leichenautopsie wusch er seine Hände und reinigte sämtliche medizinischen Instrumente mit einer Lösung aus Chlor und Zitronensäure.

Dasselbe ordnete er für seine Studenten an. Prompt sank die Sterblichkeitsrate seiner Station auf drei Prozent.

Mehr noch: Zwei Jahre nach seiner Anstellung als Assistenzarzt verringerte sich Zahl der Kindbettfieber-Todesfälle auf insgesamt 1,3 Prozent. Ein sensationeller Tiefststand in ganz Österreich-Ungarn.


Man sollte meinen, dass die anderen Ärzte Semmelweis dafür auf die Schultern klopften oder seinem Beispiel folgen würden. Der Mann rettete wirklich Leben. Nachweislich!

Doch es kam anders! Die Kollegen kritisierten ihn, mieden ihn und beschimpften seine Schlussfolgerungen als spekulativen Unfug. Hygiene sei pure Zeitverschwendung, meinten manche.


Andere griffen ihn öffentlich an, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass ausgerechnet sie Verursacher tödlicher Infektionen sein sollten. Von den wenigen Ärzten, die Semmelweis glaubten, begingen einige besonders Gewissenhafte sogar Suizid, weil sie mit ihrer schweren Schuld nicht leben wollten. Auch sie erwiesen Semmelweis damit einen Bärendienst.


Am Ende wurde Semmelweis‘ Vertrag im Wiener Krankenhaus nicht verlängert. Das kam damals einer unehrenhaften Entlassung gleich. So schied der Mediziner im März 1849 unter Schimpf und Schande aus dem Krankenhausdienst aus.

Gedemütigt kehrte der 30-jährige Arzt in seine ungarische Heimat zurück und praktizierte dort eine Zeit lang am Krankenhaus in Pest, wo er die Sterblichkeitsrate unter seinen Patienten auf 0,85 Prozent senkte, während sie in Wien wieder auf rund 15 Prozent hochschnellte.


Die Geschichte ist eine einzige Tragödie. Zumal Semmelweis zu Lebzeiten nie die Anerkennung erfuhr, die ihm zugestanden hätte.


Das eigentlich bemerkenswerte an seinem Forschungsverdienst ist gar nicht mal die Entdeckung der Hygiene in der Medizin. Es ist die unglaubliche Ignoranz und Intoleranz der Ärzte und der Wissenschaft, die – vielleicht auch als späte Reue – heute seinen Namen trägt: den Semmelweis-Effekt.

 

Der Semmelweis-Effekt erinnert uns an dieses persönliche Drama eines außergewöhnlichen Arztes, dessen Erkenntnisse den allgemeinen Überzeugungen widersprachen und deshalb abgelehnt wurden.


Unsachgerechtes Händewaschen und desinfizieren bei Ärzten ist übrigens bis heute (!) einer der Hauptverursacher von über zwei Millionen jährlichen Infektionen und rund 90.000 Todesfällen allein in den USA.


Das Prinzip dahinter lässt sich ebenso auf zahlreiche andere Bereiche übertragen. Immer dann, wenn Innovationen etablierten Verhaltensmustern oder Paradigmen widersprechen; immer dann, wenn die Menschen darauf so reagieren, dass sie den Fortschritt nicht akzeptieren, honorieren und umsetzen, sondern eher noch bekämpfen, weil er ihren Status infrage stellt, dann ist der Semmelweis-Effekt mit im Spiel.


Auch das eine Tragödie – sogar eine aktuelle.

Quelle: Gedankenwelt, Karriere Bibel


Vielen dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Für die bessere Lesbarkeit habe ich die maskuline Schreibweise verwendet. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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