Selektive Wahrnehmung

Richard Petersen • 7. Juni 2024

Der Filter in unserem Gehirn

Was wir sehen, hören und erleben ist die Wahrheit? Falsch!

Durch selektive Wahrnehmung nimmt unser Gehirn nur Ausschnitte wahr und sortiert Informationen aus. Aus der Auswahl formt unsere Kognition dann ein Gesamtbild. Es ist unmöglich, dass wir alle Reize wahrnehmen, die auf uns einströmen.


Aus der Hirnforschung weiß man inzwischen, dass unsere fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen) das menschliche Gehirn in jeder Sekunde mit rund 11 Millionen Bits Informationen versorgen. Das entspricht rund 1,4 Megabyte – der Größe einer alten Floppy-Disk. Die Älteren werden sich erinnern.

Im gleichen Zeitraum verarbeitet unser Bewusstsein aber nur 40 bis 50 Bits. Der Rest, soweit er überhaupt verarbeitet werden kann, wandert ins Unterbewusstsein.

Selektive Wahrnehmung hat deshalb eine wichtige Schutzfunktion, kann aber auch zu Täuschungen und Trugschlüssen führen.


Selektive Wahrnehmung ist ein psychologisches Phänomen, bei dem die menschliche Wahrnehmung nur bestimmte Informationen, Aspekte und Faktoren aufnimmt, während andere ausgeblendet werden.

Es ist eine Filterfunktion unseres Gehirns – jede Sekunde ist ein Viertel des Gehirns damit beschäftigt, Gesehenes zu selektieren. Durch selektive Wahrnehmung unterscheiden wir Wichtiges von Unwichtigem oder suchen nach bekannten Mustern.

Gleichzeitig ist es eine Schutzfunktion: Wir könnten die Informationsfülle und Reizüberflutung sonst nicht verarbeiten.

Allerdings entsteht dabei auch so etwas wie „Aufmerksamkeitsblindheit“.

Im Zweifelsfall triffst du Entscheidungen aufgrund von unvollständigen Informationen, weil du die restlichen schlicht ausgeblendet hast.

Wusstest du, dass das das Gehirn unnötige Informationen automatisch ignoriert?
Genau wie das zweite „das“ im vorigen Satz.


Selektive Wahrnehmung zeigt sich nicht nur in konstruierten Bildern. Es ist ein Phänomen der Psychologie, dass du im Alltag überall beobachten kannst.

Ein einfaches Beispiel: Deine Nase ist dauerhaft in deinem Sichtfeld – das Gehirn blendet diese aber einfach aus, weil sie unwichtig für die Wahrnehmung des Umfelds ist.


Die möglicherweise fatalen Effekte der selektiven Wahrnehmung zeigt auch eine bekannte Anekdote und Parabel zur Selbsttäuschung.

Vermutlich im Jahr 541 v. Chr. befragte der lydische König Krösus das Orakel von Delphi, ob er gegen die Perser marschieren solle.

„Wenn du das tust, wirst du ein mächtiges Reich zerstören“, prophezeite das Orakel.

Was für eine Nachricht! Krösus war siegesgewiss. Das Orakel hatte ihm praktisch einen Sieg garantiert, also zog er hochmütig in den Kampf – und verlor.

Er hörte nur das, was er hören wollte. Was er überhörte oder gar ignorierte, war die Rückfrage, welches Reich er zerstören würde – nämlich sein eigenes.


Unsere Wahrnehmung ist immer subjektiv! Wir sehen die Welt nicht wie sie ist, sondern wie WIR sind.

Dabei wird unsere Wahrnehmung zugleich von zahlreichen Faktoren beeinflusst – unbewusst oder gezielt, um uns zu manipulieren:


Framing gehört zu den Möglichkeiten, die selektive Wahrnehmung zu beeinflussen und Mitmenschen zu manipulieren. Unterschiedliche Formulierungen lenken die Wahrnehmung und erzielen einen gewünschten Effekt.

Beispiel: Für den Urlaub ist 80 Prozent Sonnenschein gemeldet – klingt nach schönem Sonnenwetter und Urlaub am Strand. 20 Prozent Wahrscheinlichkeit für Regen ist dieselbe Information, aber in einen anderen Rahmen (Frame) verpackt. Die Wahrnehmung wird so durch die Formulierung in eine bestimmte Richtung gedrängt.


Gefühle: Auch die akuten Gefühle spielen bei selektiver Wahrnehmung eine Rolle. Wer gerade wütend ist, sieht mehr Dinge, die sie oder ihn noch mehr aufregen. Bist du dagegen gut gelaunt und glücklich, scheint dir noch mehr Gutes zu passieren.


Erwartungen: Was wir erwarten, das sehen wir. Es ist wie bei einer selbst erfüllenden Prophezeiung. Wenn du jemanden kennenlernst und erwartest, dass diese Person intelligent ist, wirst du im Gespräch auf Anzeichen achten, die deine Erwartung bestätigen.

 

Auch das sogenannte Priming kann selektive Wahrnehmung steuern und unser Denken beeinflussen. Dabei werden durch bestimmte Worte oder Reize Assoziationen ausgelöst, um Wahrnehmung oder Kaufverhalten zu steuern. Ein schönes Beispiel hierfür ist die suggestive Fragenkaskade:


Welche Farbe hat Schnee? – Weiß.
Welche Farbe hat der Schwan? – Weiß.
Welche Farbe haben Wolken? – Weiß.
Was trinkt die Kuh? – Milch. (Falsch: Wasser!)


Am besten zeigt sich das psychologische Phänomen der selektiven Wahrnehmung, wenn du es selbst erlebst.

Dazu gibt es einen inzwischen legendären Test vom Psychologie-Professor Daniel Simons.


The Monkey Business Illusion (youtube.com)


Hast du richtig gezählt – und hast du den Gorilla im Video gesehen?

Mehr als die Hälfte der Teilnehmer übersah den Gorilla im Experiment von Simons. Klassische selektive Wahrnehmung. Die Probanden waren so auf die Ballspieler konzentriert, dass sie alles andere ausblendeten.

Der Test ist heutzutage so bekannt, dass er immer seltener funktioniert. Viele wissen bereits, was passiert und erwarten das Unerwartete.

Aber gerade weil du das Unerwartete erwartet hast, hast du vielleicht noch Wichtigeres übersehen.

Gerade einmal 17 Prozent der Probanden haben die beiden anderen Veränderungen bemerkt, wenn Sie das erste Gorilla-Video schon kannten.


Das Gehirn braucht selektive Wahrnehmung, um die Reizüberflutung zu bewältigen. Die Aufmerksamkeitsblindheit macht aber auch anfällig für Manipulationen und Fehler.

Stellt sich die Frage: Können wir die selektive Wahrnehmung umgehen? Tatsächlich ist das kaum möglich. Es ist ein Trugschluss, dass wir durch große Aufmerksamkeit und einen sehr sorgfältigen Blick der selektiven Wahrnehmung entgehen könnten.


Wie das Experiment von Daniel Simons zeigte: Je mehr wir uns auf eine Sache konzentrieren, desto eher verpassen wir andere Informationen und übersehen scheinbar Offensichtliches.

Das bestätigt auch ein Test des britischen Psychologen Richard Wiseman.

Probanden sollten alle Fotos in einer Zeitung zählen – bereits auf der zweiten Seite prangte aber eine fette Überschrift mit dem Titel „In dieser Zeitung sind 43 Fotos abgebildet“. Fast niemand bemerkte es und blätterte die ganze Zeitung durch.


Wir können selektive Wahrnehmung nicht umgehen, den Psychoeffekt aber etwas abmildern. Dabei helfen kritisches Denken und Selbstreflexion der eigenen Ansichten, wiederholt Rat suchen bei Familie, Freunden und unabhängigen Dritten und das aktive Nach- und Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung.


Wir sind allesamt hochgradig manipulierbar und lassen uns allzu leicht blenden.

Psychologische Experimente beweisen das immer wieder. Ein relativ simples, aber sehr anschauliches lieferten die beiden Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky.


Zwei Testgruppen bekamen eine mathematische Aufgabe:

Die einen sollten rechnen: 8x7x6x5x4x3x2x1.

Die anderen 1x2x3x4x5x6x7x8.

Allerdings hatten sie dafür nur fünf Sekunden Zeit. Also schätzten sie.

Die erste Gruppe schätzte im Durchschnitt 2250, die zweite kam auf 512.

Beides ist natürlich falsch.

Aber es zeigt, was du vielleicht schon ahnst: Wer mit etwas Großem beginnt, erwartet auch ein großes Ergebnis und umgekehrt.

Die richtige Antwort ist übrigens in beiden Fällen 40.320.


In diesem Sinne, vielen Dank für deine ungeteilte Aufmerksamkeit :-)


Viele Grüße,

Richard


P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

von Richard Petersen 25. April 2025
Was passiert, wenn wir Jugendlichen nicht zuhören?
von Richard Petersen 17. April 2025
Die überraschende Geschichte der deutschen Ostertraditionen
von Richard Petersen 11. April 2025
Wie Farben unsere Emotionen und Entscheidungen beeinflussen
von Richard Petersen 4. April 2025
Die Psychologie der nonverbalen Kommunikation
von Richard Petersen 28. März 2025
Wie der Wechsel der Uhrzeit unsere Psyche aus dem Takt bringt
von Richard Petersen 21. März 2025
Depressionen bei Kindern und Jugendlichen
von Richard Petersen 14. März 2025
Wie Kinder aggressives Verhalten erlernen
von Richard Petersen 7. März 2025
Der Marshmallow-Test
von Richard Petersen 28. Februar 2025
Das Edwards Gesetz
von Richard Petersen 21. Februar 2025
Der Halo-Effekt
Weitere Beiträge