Hypnosepraxis am Sachsenwald       Richard Petersen 

Psychotherapie / Hypnosetherapie                                                   21465 Reinbek, Am Rosenplatz 8                               

Bad News

Richard Petersen • Dez. 01, 2023

Warum wir manche Dinge nicht wissen wollen

Erstaunlich oft weigern sich Menschen, Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Besonders dann, wenn viel auf dem Spiel steht. Doch lässt sich die Wirklichkeit dauerhaft aussperren?

Bei all dem Klagen über die digitale Überforderung dürfen wir Eines nicht vergessen: Auch in analogen Postfächern (Briefkästen), können „Gefahren“ lauern. Den Umschlägen ist von außen anzusehen, dass ihr Inhalt Menschen in tiefste Ohnmachtsgefühle stürzen kann.

Doch nicht nur solche Kuverts, sondern auch viele andere Situationen lösen ein dringendes Bedürfnis des Nicht-wissen-Wollens aus.

Die Menschen neigen dazu, ihren Kopf bei zu vielen Gelegenheiten in den Sand zu stecken, um Lästiges, Unerwünschtes, Schmerzhaftes, Kränkendes oder auf andere Art Blödes auszublenden – und das inmitten eines gesellschaftlichen Systems, das sich im Informationszeitalter befindet.


Lange Zeit ist die in den Wissenschaften vorherrschende Meinung gewesen, dass Menschen sich selbstverständlich informieren, wenn sie die Wahl haben. Das lässt sich schließlich als rationales Verhalten bezeichnen.

Wem wesentliche Informationen fehlen, der kann schließlich schwer gute Entscheidungen treffen.

Lange galt, dass Wissen fast ausschließlich positive Konsequenzen nach sich zieht, Unwissen dagegen negative Auswirkungen. Wer also wesentliche Informationen aktiv ignoriert, der ist dann was? Ignorant? Selbstdestruktiv? Oder stecken dahinter andere, teils sogar vernünftige Motive?

Das Nicht-wissen-Wollen als solches zu erforschen, hat in der Gegenwart eine neue Dringlichkeit erfahren, glauben Forschende.


Auf der einen Seite stehen jedem Einzelnen zu jedem Augenblick so viele Informationen zur Verfügung wie noch niemals zuvor in der Geschichte. Zum anderen scheinen sich immer mehr Menschen aktiv abzuwenden oder bei einzelnen Themen auszuklinken.

 

So gab zum Beispiel im Jahr 2023 jeder zehnte erwachsene Internetnutzer in einer Befragung des Hans-Bredow-Instituts in Hamburg zu Protokoll, den Konsum von Nachrichten regelmäßig zu vermeiden. 65 Prozent blenden zumindest hin und wieder entsprechende Inhalte aus. 45 Prozent der Befragten meiden zum Beispiel Nachrichten über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, 27 Prozent Informationen über den Klimawandel.

Ähnlich ist es in anderen Ländern. Laut PEW-Research-Zahlen klinkten sich 70 Prozent der befragten US-Amerikaner schon zu Beginn des ersten Pandemiejahres 2020 immer wieder bewusst aus dem Covid-19-Nachrichtenstrom aus.


Generell vermeiden Menschen solche Informationen, von denen sie fürchten, dass sie negative Gefühle verstärken und positive abschwächen. Dafür existieren zahlreiche Einzelbefunde.

So meiden Probanden in Studien zum Beispiel Feedback über sich selbst, wenn sie fürchten, es könnte negativ ausfallen – zum Beispiel im Zusammenhang mit Liebesbeziehungen. Wer will schon hören, dass andere einen nicht sonderlich attraktiv finden?

Das Gleiche gilt für IQ-Test-Ergebnisse. Wer eine Enttäuschung fürchtet, will seinen Wert lieber nicht erfahren.

Und ihr Aktiendepot checken Investoren auch lieber dann, wenn die Kurse steigen.

Wenn sie aber fallen? Besser nicht nachschauen, wie groß das Unglück wirklich ist, das würde zu sehr schmerzen.

Der Drang, den Kopf in den Sand zu stecken, wenn die Kurse fallen, steigt sogar mit dem Wert des Portfolios an. Je mehr Geld auf dem Spiel steht, desto fester werden die Augen zugekniffen.


Wenn Wissen schmerzt, ist Nichtwissen ein Balsam.


Auch hochrelevanten Informationen verweigern sich Menschen, wenn Rückschläge zu erwarten sind.

Eine Untersuchung zeigte zum Beispiel, dass sich in einer Stichprobe 55 Prozent der Menschen niemals ihr Ergebnis abholten, nachdem sie sich auf eine HIV-Infektion hatten testen lassen.

Eine andere Studie zeigte, dass sich 40 Prozent der Probanden weigerten, ihr persönliches Brustkrebsrisiko zu erfahren.

Wobei sich in solchen Fällen die Frage stellt, was die Teilnehmenden mit dieser Information hätten anfangen können? Manchmal nämlich gibt es sehr gute Gründe, persönliche Gesundheitsrisiken nicht erfahren zu wollen.

 

Als zum Beispiel James Watson, einer der Entdecker der DNA-Doppelhelix-Struktur, zustimmte, sein Erbgut sequenzieren zu lassen, tat er das nur unter einer Bedingung:

Er verbat sich jegliche Information zu seinem genetisch bedingten Risiko, im Alter an Alzheimer zu erkranken.

Was sollte er auch mit der Information anfangen, schließlich existiert keine wirkungsvolle Therapie gegen diese Form der Demenz. Da bietet Nichtwissen immerhin einen gewissen Schutz davor, Jahre in aufgebrachter Erwartung eines schweren Schicksals zu leben.

 

Und viele Ostdeutsche verzichteten nach der Wende darauf, ihre Stasi-Akten einzusehen. Die Furcht vor dem Wissen darüber, welche nahestehenden Menschen sie womöglich hintergangen hatten, wog vielleicht schwerer als der Wunsch nach Klarheit.


Doch selten fällt eine Begründung für „epistemische Abstinenz“, so rational aus.

Oft steckt eine andere Motivation dahinter, etwa der schlichte Drang, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten und Kratzer am moralischen Lack des eigenen Ichs zu vermeiden. Zum Beispiel wollen viele nicht wissen, unter welchen Bedingungen ihre Jeans hergestellt werden. Das trübt schließlich die Freude an neuer Kleidung.


Forschende vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin werteten Versuche aus, in denen Probanden ein schlechtes Gewissen abfedern oder ganz vermeiden konnten, indem sie bewusst Informationen im Vorfeld einer Entscheidung ablehnten, die sie im Experiment zu treffen hatten.

Die Teilnehmer mussten Geld zwischen sich und einem Partner aufteilen, der selbst keine Einflussmöglichkeit hatte.

Grob gesagt, bestand die Möglichkeit, dass die Probanden sich selbst mehr Geld gaben, ihre Partner dafür aber weniger bekamen.

Es war also ein kleiner Seelenbalsam, sich selbst den größeren Betrag zuzuteilen und auf die Information zu verzichten, wie viel der andere Partner dann tatsächlich bekam. Lieber Augen zuhalten und sich selbst den größeren Betrag geben.

Diese Art der „bewussten Ignoranz“ wirkt dann wie eine Entschuldigung oder Rechtfertigung sich selbst gegenüber.

So lässt sich das Selbstbild als fairer Typ aufrechterhalten.

Etwa 40 Prozent der Probanden entschieden sich für den Balsam des Nichtwissens über den Anteil des Spielpartners, um die Konsequenzen ihrer möglicherweise selbstsüchtigen Entscheidung nicht ertragen zu müssen.

Auf diese Weise können sie auf Ahnungslosigkeit plädieren. Ein durchaus gängiges Verhalten.


So verweisen die Forschenden in ihrer Arbeit im „Psychological Bulletin“ auf den Fall Enron, einer der größten Betrugsfälle in der US-Wirtschaftsgeschichte.

Als ein erster Verdacht an die Vorstandsspitze des Konzerns herangetragen wurde, dass Bilanzen in großem Stil gefälscht sein könnten, ließ diese die Betrugsvorwürfe offenbar mit einer Untersuchung prüfen, die von Beginn an keine Aussicht auf Aufklärung hatte.

So konnte man im späteren Prozess aber sagen, von nichts gewusst, sich aber doch irgendwie redlich bemüht zu haben.


„Wissen zu vermeiden, kann ein Werkzeug sein, um Verantwortung zu vermeiden“, sagt der Verhaltensökonom Soraperra.


Hilfreich vielleicht, aber auch erstrebenswert? Zeichnet die Menschheit doch seit jeher aus, neugierig zu sein.

Wissen anzureichern und neu erlerntes Wissen dann auch anzuwenden liegt in unserer Natur.

Wo wären wir heute, wenn unsere Vorfahren nicht neugierig gewesen wären? Wenn sie erworbenes Wissen nicht angewendet und stetig verbessert hätten?


Lernen bedeutet Fortschritt, insbesondere bedeutet es persönliche Entwicklung.

Also bleib mutig, bleib neugierig.


Vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Für die bessere Lesbarkeit habe ich die maskuline Schreibweise verwendet. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.

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