Hypnosepraxis am Sachsenwald       Richard Petersen 

Psychotherapie / Hypnosetherapie                                                   21465 Reinbek, Am Rosenplatz 8                               

Münchhausen-Syndrom

Richard Petersen • Juli 28, 2023

Lügner? Ja. Simulanten? Nein!

Das Münchhausen-Syndrom. Ein Begriff, der zunächst ungewöhnlich klingt. Vielleicht sogar ein wenig lustig. War Münchhausen nicht der sog. „Lügenbaron“, der seinen Mitmenschen so unglaubliche Geschichten erzählt hat?

Benannt ist die Störung tatsächlich nach dem berühmten "Lügenbaron" Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen.


Das Münchhausen-Syndrom gehört zu den artifiziellen Störungen. Kennzeichnend hierfür ist, dass die Patienten Krankheiten vortäuschen oder künstlich herbeiführen. Im Unterschied zu anderen Personen mit artifizieller Störung haben Patienten mit dem Münchhausen-Syndrom jedoch kein intaktes soziales Umfeld.

Die Bezeichnung Münchhausen-Syndrom geht zurück auf Sir Richard Asher, einen Psychiater aus London, der den Begriff Anfang der 1950er Jahre geprägt hatte.


Das Münchhausen-Syndrom ist eine schwere psychische Störung. Die Betroffenen täuschen körperliche oder psychiatrische Symptome sowie Behinderungen vor – oder führen diese absichtlich herbei.

Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom scheuen weder Schmerzen noch bleibende körperliche Schäden noch Mühen, um glaubhaft zu vermitteln, krank zu sein. Schmerzhafte Behandlungen oder gefährliche Eingriffe wie Operationen schrecken sie nicht ab.

Patienten mit dem Münchhausen-Syndrom greifen zu teils drastischen Maßnahmen, um eine medizinische Behandlung zu erhalten. Sie fügen sich Wunden zu, infizieren ihre Haut oder verätzen sie mit Flüssigkeiten, bringen sich gezielt in den Unterzucker oder zapfen sich selbst Blut ab, um eine Blutarmut (Anämie) zu erzeugen.

Sie können zudem organische Probleme wie Magen-Darm- oder Herzbeschwerden so überzeugend darstellen, dass sie von Ärzten sogar operiert werden. Nach der Operation sabotieren sie die Heilung, indem sie beispielsweise Narben infizieren. Auch die Einnahme von unnötigen Medikamenten und Drogenmissbrauch nutzen sie zur Schädigung ihres Körpers.

Ihr Leben dreht sich vornehmlich darum, von einem Arzt zum anderen und von Klinik zu Klinik zu wandern.

Allerdings meiden sie den Aufenthalt in psychiatrischen oder psychosomatischen Einrichtungen! Betroffene haben keine Krankheitseinsicht und fürchten sich davor, ihr zwanghaftes Verhalten aufgeben zu müssen.

Hinter dem Münchhausen-Syndrom steht in der Regel eine Persönlichkeitsstörung. Die Patienten stehen in großem Konflikt mit ihrer eigenen Identität und leiden unter starken Selbstwertproblemen. Die erfundenen Geschichten helfen ihnen, immer wieder eine neue Identität aufzubauen, von der sie auch zeitweise selbst überzeugt sind. Sobald Ärzte hinter die Fassade blicken, brechen sie die Beziehung ab, um ihre falsche Identität zu schützen.


Typisch für das Münchhausen-Syndrom ist zusätzlich das sogenannte pathologische Lügen oder "Pseudologica phantastica". Die Patienten erfinden unkontrolliert und wie aus einem inneren Zwang heraus ständig neue Lügengeschichten für ihre Krankenakte. Ihre Symptome leben sie dabei sehr dramatisch aus.


Die Abgrenzung zu Simulanten

Menschen mit dem Münchhausen-Syndrom verletzen sich zwar selbst oder täuschen geschickt gesundheitliche Probleme vor. Sie haben aber keine finanziellen Interessen oder andere äußere Anreize für ihr Verhalten, sondern wollen einfach Aufmerksamkeit bekommen und medizinisch behandelt werden.

Daher zählen sie nicht zu den Simulanten. Diese sind nämlich psychisch gesund und ziehen aus dem Vortäuschen von Krankheiten Vorteile etwa finanzieller Natur.


Die Täuschungen der Münchhausen Betroffenen funktionieren häufig nur für eine kurze Zeit. Die Erkrankten entlarven sich oft bereits durch ihr Verhalten.

Geradezu erfreut lassen sie medizinische Eingriffe nicht nur zu, sondern fordern sie ein, während „echte“ Patienten diese eher fürchten und nur über sich ergehen lassen, weil der Arzt ihnen die Notwendigkeit erklärt.

Während sie aber nach Behandlung ihrer „Krankheit“ verlangen, ist ihnen das Ergebnis und der Heilungsprozess gleichgültig. Bei „normalen“ Kranken verhält es sich umgekehrt: Sie fühlen sich unwohl bei der Behandlung, freuen sich aber, wenn die Wunden heilen und sie nach Hause gehen.


Wer ist vom Münchhausen-Syndrom betroffen?

Es gibt zurzeit keine Untersuchungen, welche die Zahl der Betroffenen zuverlässig einschätzen. Experten gehen davon aus, dass etwa zwei Prozent aller Patienten im Krankenhaus an artifiziellen Störungen leiden, ein Teil davon am Münchhausen-Syndrom. Die tatsächliche Zahl könnte aber deutlich höher liegen, da viele Fälle nicht erkannt werden.

Während artifizielle Störungen meist Frauen betreffen (insbesondere solche mit medizinischem Fachwissen), tritt speziell das Münchhausen-Syndrom häufiger bei Männern auf. Neben den Symptomen des Münchhausen-Syndroms werden bei ihnen oft auch noch Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel die Borderline-Störung, die narzisstische Persönlichkeitsstörung oder die dissoziale Persönlichkeitsstörung.


Für Ärzte ist das Münchhausen-Syndrom schwer zu erkennen, da die Patienten selten längere Zeit bei einem Arzt bleiben. Die Münchhausen-Patienten spielen die Krankheiten zudem sehr glaubhaft vor, sodass der Arzt zunächst ausführliche Untersuchungen durchführen und selbst erzeugte Verletzungen behandeln wird. Erst nach einiger Zeit oder durch Gespräche mit einem früheren behandelnden Arzt fällt das Münchhausen-Syndrom auf.


Ein Hinweis auf ein Münchhausen-Syndrom ist die Gleichgültigkeit der Patienten gegenüber schmerzhaften oder gefährlichen medizinischen Eingriffen. Auffällig ist auch, dass sich die Symptome laut Patienten immer wieder verschlechtern, nachdem sie behandelt worden sind.


Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) müssen folgende Kriterien für die Diagnose "Münchhausen-Syndrom" zutreffen:

  1. Anhaltende Verhaltensweisen, mit denen Symptome erzeugt oder vorgetäuscht werden und/oder Selbstverletzungen, um Symptome herbeizuführen.
  2. Es gibt keine äußere Motivation, wie zum Beispiel finanzielle Entschädigung, für dieses Verhalten.
  3. Ausschlussvorbehalt ist das Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung, die die Symptome erklären könnte.


Sidekick

Eine Sonderform ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Münchhausen-by-Proxy-Syndrom). Dabei schädigen die Betroffenen nicht sich selbst, sondern Andere. Meist sind es Mütter, die ihre Kinder verletzen und krank machen. Anschließend lassen sie sie ärztlich versorgen und kümmern sich aufopferungsvoll um sie. Auch dieses erschütternde Verhalten den eigenen Kindern gegenüber geschieht nicht aus Bosheit oder Sadismus, sondern aus einem inneren Zwang heraus.

Was sind das für Frauen, die so etwas Schreckliches tun? Oftmals waren sie selbst Opfer von Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung. Sie fühlen sich minderwertig und einsam, sind nicht in der Lage, gesunde soziale Beziehungen aufzubauen. Viele leiden auch unter Depressionen, Essstörungen oder dem Borderline-Syndrom, welches zwischenmenschliche Beziehungen extrem schwierig macht.

Die betroffenen Kinder sind meist Kleinkinder. Sie sind also kaum in der Lage, sich fremden Menschen mitzuteilen. Wenn sie es sind, trauen sie sich selten. Und wenn sie doch von den Misshandlungen berichten, glaubt man ihnen oftmals nicht.

Immer wieder kommen Ärzte solchen Müttern dennoch auf die Schliche.

Leider bringt die Enttarnung eines Münchhausen-Opfers kaum Hoffnung auf Besserung. Bisher hat keine Therapie für die betroffenen Mütter ihr Verhalten langfristig sicher ändern können. In der Regel hilft nur, das Kind aus der Familie herauszunehmen. Die Mütter geraten nach dem Entzug des Kindes häufig in eine schwere depressive Episode. Manche versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Für das Kind ist eigentlich immer mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen. Kinder, die von ihren Müttern derart misshandelt werden, erleiden schwere psychische Schäden, manchmal entwickeln sie selbst auch das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, wodurch sich die Erkrankung über Generationen fortsetzen kann. Weitere mögliche Folgen sind schwere Ess- und Verhaltensstörungen.


Wichtig: Eine Krankheit bei einem Kind vorzutäuschen oder zu erzeugen, gilt als eine Form der Kindesmisshandlung, auch, weil das Kind immer wieder zum Arzt muss und dieser leitet vielleicht eine Behandlung ein, derer es gar nicht bedarf.

Im Fall des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms erfolgt zum Schutz des Kindes idealerweise eine Trennung von Mutter und Kind.


Die genauen Ursachen des Münchhausen-Syndroms sind noch unbekannt. Viele Patienten berichten jedoch von traumatischen Erlebnissen in der Kindheit. Das können beispielsweise häufige Verlusterlebnisse, Misshandlungen oder Vernachlässigungen im Kindesalter sein. In manchen Fällen litt bereits ein Elternteil am Münchhausen-Syndrom.

Manche Experten vermuten Lebensmüdigkeit hinter dem Münchhausen-Syndrom. Das ständige selbstschädigende Verhalten ist ein Hinweis auf den Versuch, sich das Leben zu nehmen. Gleichzeitig offenbart es das gestörte Selbstbild. Eine zentrale Rolle spielen auch die oftmals zugrundeliegenden Persönlichkeitsstörungen.


Wie lässt sich das Münchhausen-Syndrom behandeln?

Zunächst müssen die zugefügten Verletzungen oder künstlich erzeugten Symptome behandelt werden. Das selbstschädigende Verhalten kann in extremen Fällen sogar lebensgefährlich sein, was schnelles ärztliches Handeln erfordert.

Zur eigentlichen Behandlung des Münchhausen-Syndroms ist eine Psychotherapie notwendig. Es ist jedoch riskant, die Münchhausen-Patienten auf psychische Probleme anzusprechen. Die meisten erschrecken, wenn ihre Lügen enttarnt werden und brechen daraufhin den Kontakt ab. Für sie ist es nämlich wichtig, dass ihre Krankengeschichten ernst genommen werden.

Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient ist daher die Grundlage für eine Behandlung. Im besten Fall erklären sich die Münchhausen-Patienten nach einiger Zeit bereit, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der Regel verweigern sie eine psychische Behandlung jedoch.

Kann der Patient zu einer Therapie motiviert werden, erfolgt diese oft stationär in einer Klinik. Experten berichten auch von guten Erfolgen mit einem Intervallsetting. Die Patienten bleiben dabei wiederholt längere Zeit in der Klinik und werden dazwischen ambulant betreut.


Patienten mit dem Münchhausen-Syndrom stellen häufig ein ethisches Dilemma für Ärzte dar und bringen juristische Konflikte mit sich. Sie missbrauchen das medizinische System und verursachen enorme Kosten.

Es gilt jedoch zu bedenken, dass es sich um eine schwere psychische Erkrankung handelt. Die Münchhausen-Patienten können mit ihrem krankhaften Verhalten nicht aufhören, da es zwanghaften Charakter hat.


Krankheitsverlauf und Prognose

Meist entwickelt sich das Münchhausen-Syndrom im Erwachsenenalter. Der weitere Verlauf der Erkrankung kann sehr unterschiedlich sein. Er ist jedoch immer von unzähligen Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten geprägt und häufig auch von vielen unnötigen Operationen.


Das Münchhausen-Syndrom hat nach den bisherigen Erkenntnissen eine schlechte Prognose, da die Patienten in der Regel eine adäquate Behandlung im Rahmen einer Psychotherapie ablehnen. Sobald sie von den Ärzten auf ihre Problematik angesprochen werden, brechen sie die Behandlung ab. Der ständige Arztwechsel erschwert zusätzlich die nötige langfristige Behandlung.


Vielen Dank fürs Lesen und viele Grüße,

Richard


P. S. Die maskuline Schreibweise dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Geschlechter.


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